Brauchen die Deutschen Integrationshilfe?
Gedanken zum moralischen Dammbruch des Jahres 2010
Inspiriert von einigen mahnenden sowie erfrischenden Texten und Äußerungen zur unseligen Debatte um Integration und Identität versucht der folgende Kommentar, über die tagespolitischen Aufgeregtheiten hinaus Denkanstöße aus historischer, philosophischer und psychologischer Sicht zu geben, die helfen mögen, Dämme gegen die Flut alter und neuer Ressentiments zu errichten.
von Frank Hahn
So banal die Einsicht erscheinen mag, dass wir das Eigene erst aus der Perspektive der Anderen wirklich verstehen und besser wahrnehmen, so schwer tut sich die Öffentlichkeit damit. Spricht man dieser Tage mit denkenden Menschen aus dem südeuropäischen Ausland, aus Israel oder selbst den USA, die in Deutschland leben oder alle paar Monate hier tätige Zeit verbringen, dann vernimmt man tiefe Sorge. Insbesondere wer nach mehreren Monaten das Land erneut bereist, fragt sich oft erschrocken, ob hinsichtlich des Umgangs mit dem Anderen, sprich den Migranten, wir Zeugen eines Dammbruchs werden. Dieser „Bruch“ artikuliert sich exemplarisch in den Worten „Man wird doch wohl noch sagen dürfen…“ oder „Endlich darf man wieder offen reden – nach Jahrzehnten des Schweigens…“. Dieses „Endlich dürfen wir wieder…“ hörte man zuerst beunruhigend häufig in der Zeit des großen medialen „Hype“ um Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Was meint denn aber dieses „endlich wieder“ Anderes als „endlich wird einem nicht mehr widersprochen“ oder „endlich gilt man nicht mehr als extremer Außenseiter, wenn man 'bestimmte Dinge' sagt“? Was aber sollen denn diese „bestimmten Dinge“ sein, die bisher nicht gesagt werden durften? Ist das angstgetriebene Gefühl gemeint, „die Anderen, die Fremden“ würden uns „überwuchern und übernehmen“? Oder soll hier eine Bresche der taubblinden, autistisch gespeisten Wut auf alles „Fremde“ geschlagen werden, dass angeblich Ursache all unserer Probleme sei?
Widersprochen wird solch dumpfer Angstwut gegenüber dem Fremden tatsächlich weit weniger, seit Sarrazin die Rolle des eilfertigen Oberkellners an deutschen Stammtischen gibt – assistiert vom Unterkellner Seehofer. Die Szene gerät zur gespenstischen Kulisse, weil prominente Kellner offenbar die Gäste von den anderen Tischen magisch anziehen – und so wächst der Stammtisch plötzlich in die Fläche, man trifft ihn inzwischen an Orten von ehemals urbaner Offenheit, wo mittlerweile junge Besserverdienende immer öfter ganz ungeniert ihre „Angst vor Überfremdung“ bzw. die „Angst vor dem Islam“ ausdrücken.
Das dumpfe Gefühl, einer plötzlichen Flutwelle gebügelten und bieder heraus geputzten Ressentiments ausgesetzt zu werden, auf dass demnächst Dämme brächen, hinter denen sich Liberalität und plurale Lebensformen sicher gewähnt hatten, wird dabei bestätigt durch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit dem Titel „Die Mitte in der Krise - rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010“. Ihre Kernthese handelt von der „narzisstischen Plombe“, die – so die Studie – in den Jahrzehnten des Wohlstands die alten Ressentiments nur zugedeckt, damit aber konserviert habe. In Zeiten wirtschaftlicher Krise droht laut FES-Studie die Plombe heraus zu fallen, womit der alte „Eiterherd Ressentiment“ die nähere und weitere Umgebung leicht infizieren kann. Umfangreiche Recherchen zeigten, dass gerade in der sog. Mitte der Gesellschaft rechtsextreme Ansichten in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben.
Das jahrelange „Schweigen“ hat also verdeckt, dass unsere Gesellschaft – genauso wie die der europäischen Nachbarn – trotz der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht immun gegen wiederholte Infizierungen mit dem tot geglaubten Virus der Fremden-Phobie ist. Auch das ist eine Erkenntnis, die hoffentlich noch nicht zu spät kommt, so dass man vielleicht die Dämme sichern kann, bevor sie ganz brechen.
Wechselnde Fronten – von der jüdischen zur muslimischen Parallelgesellschaft ?
Dazu bedarf es jedoch zunächst einer schonungslosen Bestandsaufnahme bestimmter Befindlichkeiten. Aus der öffentlichen Berliner Debatte der letzten Wochen haben wir daher ein paar interessante Stimmen zusammengestellt, die wir für wert halten, dass sie nicht in der täglichen medialen Aufregung untergehen, sondern Anlass zum Fragenstellen und zur Infragestellung mancher Denkgewohnheit geben.
Auf diversen kleineren und größeren Foren – u.a. auf einer Veranstaltung über den jüdischen Denker Franz Rosenzweig am 19. Oktober im Berliner Literaturhaus – hat die Rabbinerin und Religionswissenschaftlerin aus Jerusalem, Eveline Goodman-Thau, im besten Sinne „Tacheles“ geredet. Sie sei schockiert, wie sich Deutschland in den letzten Monaten verändert habe. Frau Goodman-Thau, die ihre Familie im Holocaust verloren hat, den sie selbst im holländischen Exil als Kind überlebt hat, gab in aufwühlenden Worten ihrer Sorge Ausdruck, dass 70 Jahre nach der Reichskristallnacht und 65 Jahre nach der Shoah nun die Moslems als ethnische und religiöse Minderheit ausgegrenzt und verfolgt würden. Natürlich sollte hier kein Vergleich mit dem Unvergleichlichen gezogen werden, aber allein der Hinweis auf die Kontinuität des Ressentiments war für manchen ein heilsamer Schock. Wer nun solche Worte für überzogen oder extrem hält, dem sei ein Artikel der in Bonn lehrenden Judaistik-Profssorin Almut Bruckstein empfohlen, der am 12.10. im Berliner Tagesspiegel erschien. Unter der Überschrift „Die jüdisch-christliche Tradition ist eine Erfindung“ ruft Bruckstein zu einer „neuen Liaison der jüdischen Intellektuellen mit den Muslimen dieses Landes“ auf.
Abgesehen von der problematischen Zuspitzung der in der Überschrift ausgedrückten These ist der Artikel in vielerlei Hinsicht lesenswert. Die Autorin erwähnt, dass sie gegen die reflexhaften Klischees von den kriegerisch-arabischen Ursprüngen des Islam schon im Jahre 2001 in Berlin ein Projekt initiiert habe, bei dem die Verflechtungen europäischer, jüdischer, arabischer, islamischer und persischer literarischer Tradition untersucht worden seien. Die für unseren Zusammenhang entscheidenden Sätze besagten Artikels, die aufschrecken und aufhorchen lassen, seien hier zitiert:
„….im 19.Jahrhundert waren es die Juden, deren Tradition unter dem Generalverdacht verweigerter Integration, doppelter Loyalitäten, primitiver Spiritualität und pathologischer Abgrenzung gegenüber ihren deutschen Mitbürgern stand. Während heute Karikaturisten, die eine Bombe in den Turban des Propheten zeichnen, Auszeichnungen erhalten, erhob das Marburger Landgericht 1888 Anklage gegen einen Volksschullehrer, der 1886 ähnlich Brisantes ins Herz der rabbinischen Tradition platzierte. Inmitten der durch den Berliner Antisemitismus-Streit aufgeheizten Diskussion über jüdische Parallelgesellschaften und über die Unvereinbarkeit der Halacha mit den Werten der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte dieser Lehrer behauptet, der Talmud erlaube Juden unmoralisches Verhalten gegenüber Nichtjuden……auch die Assimiliertesten unter den jüdischen Intellektuellen haben damals verstanden: „Es ist Zeit, dass wir uns bekennen müssen“. In jenem Prozess übernahm der jüdische Neukantianer Hermann Cohen die Verteidigung des talmudischen Judentums. Der Angeklagte wurde zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt. Heute wissen wir: Gewaltsame Ausgrenzung, Mord und Totschlag konnte auch dieser Prozess nicht stoppen.“
Bruckstein schließt mit dem sachlich vorgetragenen – und gerade deswegen erschütternden – Hinweis, dass die Fronten nun gewechselt hätten, indem die Muslime unter Generalverdacht gestellt würden, so z.B. in Formulierungen wie „sechs Millionen Muslime in der Bundesrepublik werfen Assimilations- und Integrationsprobleme auf“.
Der Hinweis erübrigt sich beinah, dass weder Frau Bruckstein noch wir die weit gespannte Vielfalt der Strömungen übersehen, die sich unter dem Christentum, dem Islam oder dem Judentum versammeln. Ebenfalls wird kaum einer die große Anzahl säkularisierter Mitglieder innerhalb der Religionen sowie der Nicht-Gläubigen in der Gesellschaft ignorieren, so dass die gesellschaftlichen Konfliktlinien häufig weniger religiös bedingt sind als vielmehr der Ausdruck sozialer Schieflagen oder gewisser Unterschiede des Bildungsgrades sind. Dass die Wahrnehmung dieser gesellschaftlichen Probleme sowie der Umgang mit ihnen jedoch immer auch von ursprünglich religiösen Mustern der jeweiligen Herkunft geprägt werden, lässt sich jedoch genauso wenig von der Hand weisen. Insofern wirft Brucksteins Text ein erhellendes Licht auf unsere Befindlichkeiten. Aber gerade einem Artikel, der philosophisch-theologische Fragestellungen von heute aus historischer Perspektive beleuchtet, hätte der Hinweis auf die „Aufklärung innerhalb der Religionen“ gut getan. Die „Integration“ der Juden in Deutschland gelang zumindest zeitweilig und partiell, weil im Zuge der von Moses Mendelssohn maßgeblich getragenen jüdischen Aufklärung Literatur, Philosophie und Wissenschaft im Deutschland vor 1933 zum großen Teil von jüdischen Denkern geprägt waren. Ein heutiger muslimischer Moses Mendelssohn könnte zwischen verhärteten Fronten womöglich „Wunder wirken“, aber bisher hat er sich nicht gezeigt, Vielleicht lebt er bereits unter uns, hatte aber noch keine Chance sich zu artikulieren, weil er nicht genug oder schon zu sehr „integriert“ ist.
In der Tat erscheint der Begriff „Integration“ frag-würdig. Bezieht man sich dabei auf das lateinische Adjektiv „integer“, das Bedeutungen wie unvermischt, rein, unwandelbar beinhaltet? Hieße damit Integration, dass man die „deutsche Mehrheitsgesellschaft“ als ein fest gezimmertes Regal voller „unvermischter“, „unwandelbarer“ Leitkultur-Ich-Identitäten ansieht, in dem nun auch „die Muslime“ verstaut werden sollen, nachdem man sie so zurechtgestutzt hat, bis sie „passen“, also ebenfalls unvermischt, sprich „assimiliert“ sind? Oder liest man im lateinischen Wörterbuch nach, wie das Substantiv „integratio“ übersetzt wird? Dann heißt nämlich das deutsche Wort für Integratio Erneuerung – es käme also darauf an, das bisher unvermischte Regal für die Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen erst einmal frei zu räumen, um selbiges samt „Inhalt“ zu erneuern. Es würden sich also nach erfolgreicher Erneuerung nicht nur andere Türken, Vietnamesen, Palästinenser, Russen oder Grönländer darin wieder finden, sondern vor allem auch andere, „erneuerte“ Deutsche. Das wirft die Frage nach der Integrationsbereitschaft auch der „deutschen Mehrheitsgesellschaft“ auf. Ein ungeheuerlicher Gedanke? Wenn wir von hier lebenden Menschen aus anderen Kulturen erwarten, dass sie manch archaische Verhaltensweisen – insbesondere z.B. auf dem Gebiet der Geschlechterrollen – hinterfragen und verändern, warum sollten dann nicht auch umgekehrt Muslime uns „zumuten“, bestimmte Denk- und Verhaltensmuster in Frage zu stellen? Es ließe sich da so manches nennen – angefangen vom überbordenden Konsumismus, der Neigung zu Exhibitionismus in sozialen Netzwerken, Talkshows etc., damit verbunden der allgegenwärtigen Zurschaustellung des nackten Körpers, einer neurotischen Ich-Bezogenheit, und schließlich dem Überlegenheitsgefühl des „aufgeklärten Europäers“, der wie in besten Kolonialzeiten meint, die Definitionshoheit über Begriffe wie z.B. Menschenrechte und Demokratie zu besitzen, was sich in einer gewissen Ignoranz gegenüber alten Texten, Poesie oder religiösen Themen fortsetzt. Eine Erneuerung bedarf immer erst der Infragestellung dessen, was nicht mehr fragwürdig erscheint. Wenn die deutschen Bürger hier ein Beispiel gäben, könnte man von Migranten das Gleiche nicht nur leichter einfordern, sondern womöglich ihre Bereitschaft zur eigenen Infragestellung erhöhen.
Die Fragwürdigkeit der "Identität"
Aber schon stürmen verängstigte „Kellner“ und ihre Gäste auf uns zu und fragen: Wo bleibt unsere Identität? Die Fragwürdigkeit des Identitätsbegriffs sollten wir inzwischen kennen, da jeder von uns in einem anschwellenden Fluss von „Mehrfach-Identitäten“ als Vater, Ehemann, Bruder, Arbeitskollege, Untergebener, Kunde, Gruppenleiter, Christ und Nicht-Christ, Parteianhänger und Parteigegner usw. usf. lebt. Nichts kann abwegiger und realitätsferner sein als der strapazierte Satzanfang „Ich bin…“ – gesprochen von Menschen, die nie sind, sondern immer werden. Gerade dies aber ängstigt und verunsichert, so dass der Einzelne Orientierung sucht im Selben. Drückt sich in der viel beschworenen „Angst vor dem Islam“ womöglich ein tief empfundener Mangel an eigener „Identität“ aus, womit in Wahrheit das Fehlen von Orientierung gemeint ist? Des-Orientierung als Ausdruck des Des-interesses an den sprachlichen, religiösen, geschichtlichen (im Sinne des Geschichten-Erzählens) Wurzeln unserer Kultur? Legte man jene Wurzeln frei, träfe man unmittelbar auf das Fremde oder das Andere im Eigenen – wie wollte man beim Nachgehen der vielfach verschlungenen Wege der sog. „europäischen“ Kultur noch Griechisches, Jüdisches, Arabisches, Persisches in Literatur, Mythen, Religion und Philosophie säuberlich trennen, um das „Integre“ (=Unvermischte) herauszufiltern? Das führt uns auf den berühmten Satz des Philosophen Emmanuel Levinas, wonach wirkliche Orientierung nur in einem „heraus aus dem Identischen auf ein ANDERES hin“ möglich sei. Wenn ich mich dem Anderen öffne, mich ihm zuhörend aussetze, indem ich das Gespräch über Fragen und Themen aus Philosophie, Politik, Religion und Kunst mit dem Anderen nicht ergebnisorientiert und auf fertige Antworten fixiert führe, dann kann ich eine Verunsicherung erleben, die mich enorm bereichert, indem ich Welt und Mitwelt, den Nächsten und mich selbst in jeweils wechselnden, mehrschichtigen, sogar widersprüchlichen Perspektiven wahrnehme. Nicht Opportunismus oder Anpassung an den „Stärkeren“ und seine Argumente sind gemeint, sondern die Einsicht in die Grenzen der eigenen Sichtweisen und in das Angewiesensein auf ein Du, um überhaupt Ich sagen zu können. Man könnte hier ganz salopp von einer Identität der Nicht-Identität sprechen. Dass wir eine solche Identität der Nicht-Identität trotz der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland nicht entwickelt haben, führt eben zum Griff nach identitätsstiftenden Surrogaten – angefangen von fast rituell besetzten Markenprodukten bis zu wieder erwachten Fahnenkulten. Es weht einen schon merkwürdig an, dass jenes breitenwirksame Hissen der Deutschlandfahnen während der Fußball-WM im Sommer 2006 plötzlich als „Rückkehr zur Normalität und Beendigung des zweiten Weltkriegs“ begrüßt wurde, während andererseits der Nationalstaat sich längst in größere Formationen hinein auflöst. Wenngleich der normale Fußball–Fan über die Problematik der Fahnensymbolik nicht reflektiert und deswegen mehr oder weniger unschuldig das Nationalsymbol schwenkt, so darf man den massenpsychologischen und politischen Effekt nicht unterschätzen. Die Orientierung läuft über das Symbol zurück in das eigene Selbst, das sich gegen die „Anderen“ absetzen und schützen kann. Dies wird geradezu symbolisch demonstriert, wenn Menschen sich in die Fahne einhüllen. Wer den zweiten Akt jener „Rückkehr zur Normalität“ mit dem Erscheinen des Sarrazin-Buches im Spätsommer 2010 gekommen sieht, muss sich fragen lassen, wann wir mit dem dritten Akt zu rechnen haben, und ob dann die Kellner doch noch zu Führern mutieren, wie es sich jetzt schon manche gewünscht haben. All dies soll nur stichwortartig zu denken geben. Wir hatten jedoch von Stimmen der öffentlichen Debatte in Berlin gesprochen.
Zum Thema Identität und Zuhören sei deswegen ein – wie wir finden – weiterer bemerkenswerter Kommentar aus dem Tagesspeigel vom 22.10. zitiert. Der Autor Martin Rennert ist Präsident der Universität der Künste (UdK).
Unter der Überschrift „Die Märchen der Anderen hören“ parodiert Rennert zunächst den verhängnisvollen Begriff der Leitkultur. Angesichts dessen, dass man in Berlin von „Kulturen“ nur so umzingelt sei – Rennert nennt z.B. „deutsche, grüne, türkische, Zehlendorfer, autonome, schwäbische, Lichtenberger und nostalgische Kulturen“ – erinnere das Wort „Leitkultur“ an das Bilderrätsel aus Rilkes Karrussell: „dann und wann ein weißer Elefant“. Sehr richtig betont Rennert, dass es beim Verstehen nicht vordergründig um Zustimmung gehe, sondern um Interesse bzw. Neugier, um dann folgende „Regeln“ für das Miteinander in einem Meer der Kulturen zu formulieren:
„1. sprechen lernen, unsere eigene Herkunft begreifen, 2. hören lernen, den anderen zu begreifen versuchen, 3. miteinander reden lernen. Unendliche Mühe ist notwendig, die eigene kulturelle Herkunft zu verstehen, aber Sprüche über Identitäten bleiben ohne diese Mühe für alle Ethnien leeres und gefährliches Gefasel….“
Wir sollen lernen zu sprechen und zu hören? Warum soll noch einmal gelernt werden, was wir all-täglich und selbstverständlich tun, mag manch einer fragen. Vielleicht haben wir das All-tägliche und Selbstverständliche verlernt, indem wir zugelassen haben, dass Sprache verfallen ist zum Transport von Informationen? Oder weil Zuhören zu „teuer“ ist, da es der Zeit bedarf, die bekanntlich Geld ist?
Martin Rennert schließt seinen Artikel mit dem Bericht über das Projekt „Sprachlos“, das „Zeit kostet“, aber mehr davon schenkt: an 21 Schulen und sieben Kitas in Berlin würden Woche für Woche - jeweils nur für eine Stunde - Märchen und Mythen aus Deutschland und anderen Herkunftsländern der Kinder erzählt:
„Es wird zugehört, dann nacherzählt, dann Eigenes erfunden, von bisher 5000 Kindern. Die Lehrer sagen, dass die Konzentrationsfähigkeit deutlich gesteigert, der Wortschatz vergrößert und das Weltwissen erweitert wurde….es herrscht Ruhe, wenn die Kinder erleben, wie es ist, wenn anderen ein Märchen ihrer Großmutter gefällt. Sie lernen Achtung, Stolz und gemeinsame Sprache mit den Mitteln der Kunst.“
Vielleicht wächst unter diesen 5000 Kindern gerade der ersehnte muslimische Moses Mendelssohn heran, der zur Erneuerung („Integration“) der eigenen Religion und Kultur etwas beiträgt. Und wie integrieren sich die Deutschen? Diese Frage öfter und immer wieder laut und vernehmlich zu stellen, dürfte die beste Antwort auf ein schwieriges und komplexes Problem sein, das keine einfachen Antworten, dafür umso mehr paradoxe Fragen braucht.
Brauchen die Deutschen Integrationshilfe?
Gedanken zum moralischen Dammbruch des Jahres 2010.
von Frank Hahn