Der Rest, der bleibt - oder das ewige Dennoch
Nach Rom und Jerusalem wieder einmal Frankfurt als Tagungsort der Internationalen Rosenzweig-Konferenz (IRG) – nach der heiligen Stadt und der himmlischen nun also das Profanum der Bankenmetropole? Das wäre Klischee, und solches widerlegt sich häufig selbst, wie der Blick aus dem Hotelfenster im Frankfurter Westend zeigt. Ein bemerkenswertes Wechselspiel architektonischer Formensprache offenbart sich hier: zwei Kirchen schmiegen sich, so scheint es, an ein Ensemble aus gläsernen Bürohochhäusern, welche die Kirchtürme wohl um das Zehnfache überragen. Dieser Eindruck des Schmiegens überrascht, widerspricht er doch der landläufigen Ansicht sowie der häufig empfundenen eigenen Wahrnehmung, wonach das gigantisch Anmutende von Hochhausfassaden die sakralen Bauten früherer Zeiten zu erdrücken, gar zu vertilgen scheint. Hier aber behaupten sich die zwei Kirchen tapfer gegen die schiere Übermacht der Glastürme. Zugleich ist Glas das lichtdurchlässigste aller Materialien. Vielfältige Spiegelungen erzeugen die Wirkung von Transparenz, was immer hinter den Fenstern der Türme an Geschäften stattfinden mag. Wird deswegen in diversen Studien die Skyline von Manhattan oder Boston als Gotik der Moderne oder sogar als eine Art überdimensioniertes Tor zum Heiligtum bezeichnet? Also nichts von Tapferkeit der Kirchen, sondern gute Nachbarschaft der Formensprachen verschiedener Jahrhunderte? Bei mir wirkt das Bild der tapferen Gotteshäuser trotz alledem wie ein in den Morgenhimmel geschriebenes Dennoch.
Solche Überlegungen begleiten mich auf dem Weg zum Campus Westend, dem Ort der Rosenzweig-Konferenz 2022. Hier empfängt die Tagungsteilnehmer: innen eine „neue“ – vor 100 Jahren gebaute - Sachlichkeit, nüchterne Konferenz-Säle, die nichts Sakrales an sich haben, dafür aber Schutz und Kühle gegen eine ungewöhnliche Juli-Hitze bieten. In Rom und Jerusalem ist es dieser Tage nicht so heiß. Verkehrte Welt? Nicht die Welt ist verkehrt, aber die Verkehrungen und Versehrungen in der Welt sind dieser Tage nicht zu übersehen, vom Krieg auf europäischem Boden, über die weiter andauernde Pandemie bis zur Klimakrise und den wirtschaftlichen Folgen all dessen bis zur Hungerkrise in vielen Teilen der Welt. Auch die Rosenzweig-Konferenz musste wegen der Beschränkungen aufgrund der Pandemie bereits zweimal verschoben werden. Dass sie nun stattfinden konnte, nannte Yehoyada Amir aus Jerusalem ein Wunder und das Zeichen eines großen Dennoch. Sogleich sehe ich die beiden Kirchtürme, die vor der Kulisse ihrer gläsernen Nachkömmlinge ihr eigenes Dennoch in den Stadtraum skandieren. Vieles ist anders als bei den beiden letzten Konferenzen, es sind weniger Gäste und Redner gekommen, man spürt im Zwischenhaften der Begegnungen geradezu feinstofflich auch immer die weltpolitischen oder welthistorischen Veränderungen. Passender hätte deshalb das Thema der Tagung kaum gewählt sein können: „Franz Rosenzweig und die Geschichte“. Was hat uns Rosenzweig heute zu sagen? Die Frage wurde noch einmal zugespitzt im Grußwort, das Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden vortrug: „Wenn Rosenzweig hier nach 100 Jahren plötzlich in den Saal käme, würde er gehen oder bleiben?“
Geschichte des eigenen Lebens
Eröffnet wurde die Konferenz durch Ephraim Meir aus Jerusalem, den Präsidenten der IRG. Er hatte das Thema „Vom Tode zum Leben – autobiographische Spuren in Rosenzweigs Stern der Erlösung“ gewählt. Leser des „Stern“ sind vertraut damit, dass dieses Buch mit dem Tod beginnt und es am Ende heißt „Ins Leben“. Sie wissen auch, dass Rosenzweig keine abstrakte philosophische Spekulation geschrieben hat, sondern immer die existenziellen Fragen des Lebens schreibend bearbeitet hat. Wie nah er dem Tode war – nicht nur aufgrund des Einsatzes im ersten Weltkrieg – , das zeigte Meir anhand der Gritli-Briefe und anderer Dokumente auf. Schon nach dem berühmten Leipziger Nachtgespräch im Juli 1913, bei dem ihn sein Vetter und sein Freund bedrängt hatten, vom Judentum zum Christentum zu konvertieren, sei Rosenzweig nahe daran gewesen, sich das Leben zu nehmen. Im Laufe der Zeit sei immer wieder von düsterer Stimmung die Rede gewesen – und Rosenzweig habe sich gefragt, ob er sich aufhängen oder doch seine Dissertation schreiben solle. „Rosenzweig hat sich mit dem Stern zurück ins Leben geschrieben“, so Meir. Parallel zu diesem bedeutenden Werk hat er fast täglich an seine Geliebte Margrit Rosenstock-Huessy geschrieben, das Gespräch mit ihr und die gegenseitige Liebe waren für ihn notwendig, um den „Stern“ überhaupt schreiben zu können. Strak wie der Tod ist die Liebe – dieses Zitat aus dem Hohelied der Liebe steht als Überschrift zum Kapitel über die Offenbarung. Müsste man nicht besser sagen Die Liebe ist stark wie der Tod? Wie auch immer. „Das Wunder der lebensspendenden Liebe“ habe Rosenzweig auch zu den Sätzen inspiriert, wonach das verstockte Selbst sich zur sprechenden Seele auftue. Rosenzweig habe es selbst so erlebt und sich von hier aus ins Leben geschrieben. Meir sagte es so: „Rosenzweig war von der Vorstellung der Ewigkeit in der Zeit beseelt. Als Überlebender eines furchtbaren Krieges hat er eine Verpflichtung gespürt, der Ewigkeit schon hier und heute lebendigen Ausdruck im Leben zu geben, und er hat dies als ein neues Gesetz formuliert, ein Wunder, ohne das Leben nicht möglich sei.“
Weltgeschichte
War es „nur“ seine persönliche Geschichte, die Rosenzweigs Hinwendung zur „Ewigkeit in der Zeit“ bewirkt hat? Wie hier die politischen und weltgeschichtlichen Ereignisse hinein spielten, dieser Frage widmeten sich mit Inka Sauter und Christoph Kasten Forscherinnen der jungen Generation. Sie zeigten in ihren Vorträgen auf, wie sich Rosenzweig mit dem „Stern“ in eine Dimension des Seins außerhalb der Geschichte - als politischer oder Weltgeschichte - hinein geschrieben habe. 1914 habe er den Krieg zunächst deutlich verurteilt, dann habe er über die Jahre eigene geopolitische Konzepte für ein Nachkriegseuropa entwickelt, bis er schließlich seine philosophisch-theologischen Überlegungen im „Stern“ in scharfem Kontrast zur Idee des historischen Fortschritts formuliert habe, die er als säkulare Heilsgeschichte gescheitert sah, da ihr der Drang zur Machtpolitik und damit zur Gewalt innewohnte. Das Christentum habe für Rosenzweig, so Kasten, die Heilsgeschichte als Aufgabe zwischen Papst und Kaiser und den Weg der Nation spätestens seit 1500 als Weg zu Gott gesehen. Aus dieser Perspektive sei das Christentum der ewige Weg – und das Judentum demgegenüber das ewige Sein. Rosenzweigs geopolitische Überlegungen der Jahre 1916 und 1917 hätten schließlich angesichts der Grauen des Krieges eine deutliche Zäsur erlebt. Kasten zitierte Rosenzweig: „So sind wir wahrhaftig auf eine Klippe gestellt und müssen [...] zum Himmel der Ewigkeit auffliegen oder im Meer der Vergangenheit ersaufen; der Strom der Zeit hat uns ausgespien. Wir müssen das Zeitlose leisten, denn der Zeit genug zu tun und es ihr anheimzustellen ob sie es weiter trägt, ist uns schon versagt.“ Das Zeitlose zu leisten habe für Rosenzweig seine Heimkehr zum Judentum bedeutet, in dem Erlösung und Ewigkeit bereits ganz gegenwärtig seien. Damit aber sei das Judentum dem weltlichen Raum der Politik und des Staates enthoben. In einer winzigen Andeutung verwies Kasten darauf, dass dieses Jenseits der Weltgeschichte für Rosenzweig auch in der Sprache sich manifestiere. Diesen Aspekt haben andere Redner der Konferenz aus verschiedenen Perspektiven ebenfalls hervorgehoben.
Die Gegenwart ist die Zeit der allzeit erneuerten Geburt der Seele oder der Offenbarung: Der Augenblick, in dem der einzelne je neu zur Antwort gerufen wird. Dieser Augenblick, in den die Ewigkeit hereinbricht, schaffe, so Inka Sauter in ihrem Vortrag, einen Raum der Begegnung von Mensch, Welt und Gott außerhalb der Geschichte. Dass dieser Augenblick zugleich trotz alledem innerhalb der Geschichte zu verorten sei, darauf hat Yehoyada Amir in seinem Vortrag hingewiesen, indem er die Frage stellte: „Wie könnte denn die Ablehnung des geschichtlichen Fortschritts außerhalb der Geschichte stattfinden?“ Amir gelang es, an einem konkreten Beispiel Rosenzweigs Verständnis der Spannung zwischen Ewigkeit und Weltgeschichte aufzuzeigen: Die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70, die als Trauma und Wendepunkt der jüdischen Geschichte gilt, habe für Rosenzweig keine neue Epoche eingeleitet, denn Zerstörung, Exil und Trauma könnten an der Beziehung des einzelnen Menschen zur Ewigkeit und zu seinem Gott nichts ändern.
Bliebe oder ginge er? Rosenzweig hier und heute
Entfaltet dieser Ansatz nicht gerade vor dem Hintergrund der heutigen weltgeschichtlichen Stunde, ihrer Ungewissheiten, mannigfaltigen Bedrohungen und Krisen eine heilsame Wirkung? Unabhängig davon, ob und wie stark man in einer Glaubensgemeinschaft verankert ist und einem Worte wie Offenbarung und Ewigkeit zugänglich sind, wirkt Rosenzweigs messianischer Geist universell. Dieser versinkt gerade nicht in Resignation vor einer oftmals brutalen Wirklichkeit, er lässt sich aber auch nicht treiben von einer medialen Sucht nach den neuesten Meldungen und Informationen, die eher die Ohnmacht als die Hoffnung befördern. Mediale Empörung und Aufregung führt nicht zuletzt zu einer Beschädigung der Sprache, ihrer Reduzierung auf ein Werkzeug der Kommunikation. Sprache scheint politisch und gesellschaftlich häufig mehr auf Ansagen, Durchsagen und Absagen orientiert – und auf klare Abgrenzung bis hin zur Verordnung und Zuordnung eines bestimmten Sprachgebrauchs in den jeweiligen gesellschaftlichen Lagern. Vor diesem Hintergrund war der Beitrag von Ynon Wygoda aus Israel bemerkenswert, brachte er doch unerwartet eine Triade aus Sprache, Ewigkeit und Erlösung zu Gehör. Vordergründig ging es um ein Projekt zur Digitalisierung von Zitaten aus dem „Stern der Erlösung“. Statt Zitat sollte man vielleicht besser von Anleihen Rosenzweigs bei anderen Autoren sprechen, denn zitiert wird im Sinne von Fußnoten mit Quellenangaben im „Stern“ so gut wie nie. Das mag heutigen Normen widersprechen. Doch Wygoda sieht darin auch eine Methode, das Klare und Distinkte in Sprache und Text zurückzuweisen und damit jene Mehrdeutigkeit des Wortes zu bewahren, die in Zeiten abnehmender Ambiguitätstoleranz oft unter Verdacht gerät. Rosenzweig zitiere im „Stern“ Goethe und Kant, Schiller und Schopenhauer sowie mannigfache Stellen aus der Torah eben meist nicht wortwörtlich, sondern er ironisiere, deute um und forme die ausgeliehenen Sätze zum Sprungbrett für Fragen und Widersprüche, so Wygoda. Es geht also bei dem Digitalisierungs-Projekt nicht darum, ausgelassene Fußnoten nachträglich zu ergänzen, sondern dem Leser einen Text- und Zitierraum zu öffnen, in dem von Ewigkeit zu Ewigkeit sich Texte neu begegnen und eine Gleichzeitigkeit verschiedener möglicher Lesarten entstehen lassen. Es ist gerade das zuweilen Unentscheidbare in der Zuordnung eines „Zitats“, das diese Gleichzeitigkeit aufscheinen lässt. „Es kann passieren“, so Wygoda, „dass eine bestimmte Passage im „Stern“ sowohl von Schopenhauer wie von Hiob entlehnt sein mag – oder von weiteren Autoren.“ Diese Form des Zitierens führe, so Wygoda, zur Erlösung – durch die sinnfällige Erfahrung, dass Sprache niemandem gehöre, nicht der Mensch mache die Sprache, sondern er ist es, der durch sie geprägt werde. Sie „gehöre“ dem ganzen Menschengeschlecht als Morgengabe des Schöpfers, und mit jedem Wort, mit jedem Namen, den wir aussprechen, zitieren wir ungewollt diejenigen, die uns über die Jahrhunderte und Jahrtausende vorausgegangen sind. Die Sprache, so die implizite Aussage Wygodas, wirkt wie eine unsichtbare Quelle der Verbundenheit zwischen den Generationen sowie den verschiedenen Kulturen und Traditionen. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit wird in den Kulturkämpfen der Gegenwart häufig ausgehebelt, so zum Beispiel, wenn die Voraussetzung für eine Übersetzung darin bestehen soll, dass Übersetzerin und Autorin die gleiche Hautfarbe haben, oder wenn ein Wort, ein Name, ein Satz dem Sprachgebrauch der gegnerischen Gruppe zugeordnet und deswegen tabuisiert wird. Rosenzweigs unkonventionelle Zitierlust und ihre Neuaneignung durch zukünftige Leser könnte wie eine Befreiung aus der Erstarrung heutiger sogenannter Identitätspolitiken verstanden werden.
Der Rest
Zum Arsenal solch einer Befreiung gehört auf treffliche Weise ein weiterer berühmter Topos aus Rosenzweigs Werk: der Rest. Darauf wies die Rosenzweig-Forscherin Gesine Palmer aus Berlin in ihrem Beitrag hin. Während das Christentum aufgrund des Missionsauftrags sich immer weitere Teile der Welt aneigne, also durch Addition bestehe, so Rosenzweig, erlebe das Judentum bereits die Ewigkeit im Augenblick und bedürfe nicht der Ausdehnung in die Welt. Statt in der Addition bestünde das Wesen des Judentums in der Subtraktion, das heißt der Bildung immer neuer Reste. Auch der einzelne Jude gehe in seinem Inneren diesen Weg der „Restbildung“. Im Gegensatz zu manch post-modernen Philosophen, die den Rest des Judentums als Ausdruck von Diaspora und Exil nach all den fortdauernden Katastrophen bis hin zur Shoah verstehen, liest Palmer hier erfrischend anders. Sie macht den widerständigen Rest stark, der sich der Auflösung in eine Gleichung – oder eine Gemeinschaft der Gleichen - entzieht und dadurch das Rätsel und die Würde der Einzigartigkeit der Person bewahrt. Gerät diese Einzigartigkeit nicht zunehmend in Bedrängnis, wenn Differenz und Alterität nicht mehr als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden werden? Die zunehmende Normierung in Richtung auf Homogenität produziert wieder einmal die sogenannten Abweichler und damit das Phänomen von Ausgrenzung und Ausschließung.
Rosenzweigs Rest, darauf hat Palmer verwiesen, ist jedoch gerade nicht allein exkludierend zu verstehen, sondern eher als das berühmte Salz in der Suppe: der einzelne Mensch, der nicht restlos in einer Gruppe aufgeht, ist oft derjenige, der auf den blinden Flecken hinweist, der in allen Gemeinschaften existiert. Da wir nie das Ganze vor Augen hätten und insofern keine unserer symbolischen Ordnungen je vollständig sein werde, so Palmer, offenbare gerade derjenige, der nicht in dieser Ordnung aufgehe (der „Abweichler“), das Schändliche, das auch der besten Ordnung innewohne. Und weiter:
„Der, für den die Ordnung nicht gilt, offenbart ihre Schande – und ist zugleich notwendig zur Erhaltung jedes Systems, in dem, wer nicht nach unten tritt, selbst nach unten getreten wird……. Seine letzte Hoffnung wäre, dass er der einzige ist, der bleiben wird. Diese Hoffnung aber muss zugleich die Furcht und die letzte Hoffnung der symbolischen Ordnung sein, deren abgeschiedener Rest er ist. Die Furcht, weil es sein könnte, dass am Ende nur ihre Schande übrigbleibt. Die Hoffnung, weil nur durch die letzte Rettung, das Übrigbleiben des Abgeschiedenen, der gesamten Ordnung ihre letzte Schande erspart bliebe.“
Besser lässt sich kaum formulieren, dass wir als Gesellschaft stets auf den Anderen als widerständigem Rest angewiesen sind – und wenn die Schande „nur“ darin bestünde, dass die Gesellschaft in Selbstgewissheit und Selbstgerechtigkeit erstarrt. Rosenzweig hat diese Überlegungen des Angewiesen-Seins auf den jeweils Anderen vor allem auch für die Beziehung zwischen Judentum und Christentum formuliert, es spricht jedoch viel dafür, sie universell zu lesen.
Jüdisch-christlicher Dialog
Explizit hat sich dem Dialog zwischen Juden und Christen in seinem Beitrag noch einmal Christian Wiese gewidmet, der als Frankfurter Gastgeber die gesamte Tagung mit seinem Team in erstaunlich kurzer Zeit sorgsam vorbereitet und während der Tage stets freundlich zugewandt choreographiert hat. Sein Thema war „Die weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel: Franz Rosenzweigs und Martin Bubers biblische Reflexionen in dunkler Zeit“. Was mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten als Verfolgung der Juden begann und in der Shoah endete, kündigte sich schon in den 1920er Jahren an, nicht nur in Gestalt eines zunehmenden Anti-Semitismus der Gesellschaft, sondern auch als neue Stufe des immer schon gegenwärtigen Anti-Judaismus christlicher Theologen. Umso bemerkenswerter ist einerseits das große Projekt der Bibelübersetzung durch Rosenzweig und Buber und damit verbunden beider Einsatz für das, was sie biblischen Humanismus genannt haben. Durch die Hebraisierung der deutschen Sprache habe man, so Wiese, Deutschtum und Christentum voneinander lösen wollen, um dem Judentum einen ebenbürtigen Rang in der deutschen Gesellschaft zuzusprechen. Buber habe mit seinem politischen Plädoyer für eine prophetische Existenz, in der unser Leben ein Gespräch zwischen Himmel und Erde sei, die Christen mit einbeziehen wollen in eine neue Lektüre der Bibel. Lektüre nicht nur verstanden als Lesen und Wiederlesen der bekannten Worte, sondern als Anspruch an den Leser, das biblische Wort vielleicht zum ersten Mal schreiben und sprechen zu lernen, indem jeder und jede zum persönlichen Kommentar aufgerufen seien, durch den ein Verständnis der Schrift erst sich einstellen möge, so Wiese. Und dies vor allem bezogen auf die hebräische Bibel, auch Altes Testament genannt. Denn für das Christentum, das habe Rosenzweig stets betont, sei ein Rückgriff auf das Alte Testament überlebenswichtig, da das Neue Testament zu weltnah sei. Die Folge sei eine unselige Verstrickung des Christentums in staatliche und machtpolitische Dynamiken, was am Ende das Abgleiten in völkische Ideologien begünstigt habe. Harnacks Behauptung vom fremden Gott der Juden habe dann, so Wiese, in den 1930er Jahren zur theologischen Entgleisung geführt, das ganze Alte Testament als fremde Religion, die von Jesus aufgehoben und zerbrochen sei, zu verfemen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Werk Rosenzweigs und Bubers noch einmal in einer Perspektive, die über das Theologische weit hinaus greift. Wiese versäumte es denn auch nicht, mit Emphase darauf hinzuweisen, dass sich auch heute erneut Stimmen zu Wort melden, die das Alte Testament gern aus dem biblischen Kanon eliminieren würden. Darin könnte sich, falls sich solche Tendenzen weiter ausbreiten, tatsächlich eine neue dunkle Zeit ankündigen.
Was bleibt?
Es ist nicht möglich, in diesem kurzen Überblick all die weiteren originellen Beiträge aufzuzählen, geschweige denn zu würdigen, die sich dem Thema Ewigkeit in der Zeit, Geschichte und Sprache oder der Bedeutung des Gottesnamens gewidmet haben. Die dreitägige Konferenz scheint im Nachhinein selbst wie ein außerhalb – nicht der Geschichte, aber außerhalb der Gluthitze, welche dieser Tage über Mitteleuropa lag. Abgeschirmt hinter Jalousien und in gekühlten Räumen ließ es sich trefflich über Geschichte und Ewigkeit miteinander sprechen, in einer Atmosphäre freundschaftlicher Gelassenheit und Verbundenheit. Aus vielerlei Gründen waren weniger Menschen gekommen als zu den letzten Konferenzen, auch hier ein Rest? Sicher nicht im Sinne des Schwindens – sondern im Sinne des am Anfang erwähnten Dennoch, das nicht trotzig- verstockt, sondern widerständig klingt: Etwas bleibt! Und wenn es ein Rest an spirituellem Raum jenseits der täglichen Nachrichten in einer ungewissen Weltlage ist. Und Rosenzweig: wäre er nun geblieben oder gegangen? Vielleicht ist die Antwort nicht wichtig. Er war und ist ja da, lebendig spürbar in seinen Worten.
Der Rest, der bleibt - oder das ewige Dennoch
Bericht von der Internationalen Rosenzweig-Konferenz in Frankfurt/Main
von Frank Hahn