„Die Rebellion der Liebenden"
Was tun, wenn die täglichen Nachrichten an uns nagen, wir von den Krisen und Kriegen der Welt überfordert werden und uns von Forderungen nach eindeutiger Positionierung und damit verbundenen inneren und äußeren Konflikten bedrängt fühlen? Eine Möglichkeit des Umgangs damit zeigt sich in dem neuen Buch von Marica Bodrožić , das den Titel „Rebellion der Liebenden“ trägt – mit der Unterzeile „Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten“.
Die Autorin führt den Leser und die Leserin zum inneren Ort ihrer eigenen Unversehrtheit, der für sie zugleich Quellort der Gnade und Liebe ist. Dieser Ort habe sich ihr geöffnet, nachdem sie Gefühle und Empfindungen wie ihre Verletzlichkeit, ihren Schmerz, manches Unbehagen und auch ihre Angst nicht umgangen, sondern durchdrungen habe. In sehr persönlichen Zeugnissen beschreibt die Autorin dabei die Szenen der Gewalt, die sie als Kind und Jugendliche erfahren hat. Dass sie diese Gewalterfahrung gewendet hat in eine „Rebellion der Liebe“, ist nicht nur bewegend zu lesen, sondern verbindet das Persönliche mit dem Kollektiven in einer für unsere Zeit ungewöhnlichen Weise. Rebellion klingt nach Aufstand und Gegnerschaft, doch diese Rebellion richtet sich gerade gegen das Bekämpfen, das Rechthaben- und Siegenwollen. Es ist eine Rebellion, die angesichts von Krieg und Terror in der Welt eben jener Gewalt entsagen möchte. Nicht als Appell oder als Programm, sondern als Weg des Einzelnen, sich nicht vom Außen vereinnahmen zu lassen, von den Nachrichten sowenig wie von Ideologien und Freund-Feind-Dualitäten. Je mehr der Einzelne angesichts der medial verbreiteten Krisen der Welt sich ohnmächtig erlebt, entweder im Leiden an der Welt oder im Wüten gegen sie, desto mehr entfernt er sich von sich selbst. So könnte man das Credo der Autorin zusammen fassen. Den Weg zu sich, ins eigene Gewahrsein zu finden, ist die Herausforderung unserer Zeit. Das bedeutet für Bodrožić keineswegs Weltflucht, sondern Zeugenschaft. Es bedeutet eine Genauigkeit im Erforschen und Erspüren dessen, was mich wirklich bewegt und berührt. Immer wieder wird ihre eigene Verletzlichkeit als Ausgangspunkt für das Gefühl der Verbundenheit mit „allem-was-ist“ und damit für die Liebe, benannt, in deren Namen Bodrožić gegen die Verpanzerung der Seelen in unsicheren Zeiten rebelliert. Auf diesem Wege eines ruhigen, inneren Gewahrwerdens wird sich auf lange Sicht, und im Kleinen bereits jeden Augenblick, unser Miteinander ändern, davon ist die Autorin überzeugt.
Die Urszene seelischer Gewalt
Marica Bodrožić, 1973 in Dalmatien geboren und mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, ist zweifellos eine der produktivsten Schriftstellerinnen unserer Tage. Durch ihr vielfältiges Werk (Romane, Gedichte, Essays) zieht sich ein Thema wie ein roter Faden: das Horchen nach Innen, um den eigenen Gefühle und Körperempfindungen zu begegnen. Nur in dieser Berührung des Selbst würden wir zu einer mitfühlenden und verletzlichen Begegnung mit der Welt fähig. Das vorliegende Buch besteht aus sechs Essays, die folgendermaßen betitelt sind: Durchlässigkeit, Verletzlichkeit, Gnade, Ungezähmtheit, Zugehörigkeit, Verwandlungsfähigkeit. Im ersten Essay zur Durchlässigkeit erzählt Bodrožić von ihrer „Urszene seelischer Gewalt“, die sie als Kind erlebt hat. Damals fuhr sie in den Sommerferien immer mit dem Bus zu ihrem Großvater nach Kroatien. Ihr Vater verlangte dafür, dass sie kleine Bildchen, die wie Heiligenbildchen aussahen, in die Heimat schmuggeln solle. Abgebildet war darauf der frühere Faschistenführer Ante Pavelic, und der Vater gab der Elfjährigen nicht nur Anweisungen, für wen im heimatlichen Dorf die Bildchen bestimmt waren, sondern er schärfte ihr vor allem ein, sie beim Grenzübertritt gut zu verstecken. Und hier ereignete sich das, was Bodrožić mit Durchlässigkeit meint. In ihr keimte ein Unbehagen auf, ein Unwohlsein, und das machte aus ihr einen denkenden Menschen, wie sie schreibt. Sie befolgte zwar die Anweisung des Vaters, denn sonst hätte sie die Reise gar nicht machen dürfen, doch zugleich distanzierte sie sich innerlich von ihm und wurde ein autonomer Mensch. Dazu war es nötig, durchlässig für das Gefühl des Unbehagens zu sein, darauf hören zu können und es nicht wegzuschieben.
Neben der seelischen Gewalt berichtet die Autorin in persönlichen Zeugnissen von der körperlichen Gewalt, der sie ausgesetzt war. Auch hier habe im Moment der erlittenen Schläge und der Schmerzen sich zugleich ein innerer Raum geöffnet, den Bodrožić als uneinnehmbar und unzerstörbar bezeichnet. Diese Erfahrung habe sie bestärkt, dem Impuls zu widerstehen einfach zurück zu schlagen. In der Beschreibung dieser Schau nach Innen und der damit verbundenen Fähigkeit, selbst der Gewalt zu entsagen, liegt eine heilsame Kraft, die den Leser überrascht und anrührt. Insofern sind die Essays weit mehr als Betrachtungen oder Reflexionen, ich würde sie eher als eine zeitgenössische Weisheitsliteratur bezeichnen.
Rebellion und Poesie
So verwandelt sich auch die Bedeutung des Wortes Rebellion. Nicht das Aufrührerische und so eben doch Gewalttätige sind hier gemeint, sondern ein Aufbegehren als Aufrichtung, und als Aufforderung - zur Liebe. Könnte man nicht auch, wenn man dem lateinischen Wortstamm folgt, Re-bellion als Rücknahme (Re-) des Krieges (bellum) lesen? Die Rebellion der Liebenden hat jedenfalls einen anderen Ort als den des Kampfes:
„Zwischen der Überschreibung durch die Gewalt und dem Urgrund des Seins gibt es einen Raum der Güte, eine stille, aber lebendige Welt, die eine Aufforderung zur Liebe ist. Sein und Wissen, ohne selbst zurückzuschlagen. Ist das der Ort der Poesie, an dem die eigentliche Rebellion der Liebenden stattfindet?“
Tatsächlich muten diese Essays zuweilen wie ein Langgedicht an. Auf mancher Seite folgen die Sätze aufeinander wie Zeilen aus einem Gedicht. Sie gehen unmittelbar in das Gemüt ein, man glaubt sie zu verstehen, und spürt zugleich, dass es nicht um Verstehen geht, sondern darum, sie selbst zu verkörpern. Und so stellt die Autorin der Leserin und dem Leser die Frage des persischen Dichters Rumi: „Und du? Wo bist du?“ Die Texte sind so reich und dicht, dass man beim mehrfachen Lesen merkt, wie unerschöpflich die Lektüre ist. Die Stille und die Langsamkeit, die Bodrožić immer wieder erwähnt, sind vom Leser selbst gefordert, sonst besteht die Gefahr, dass die Sätze vorbei rauschen wie eine unachtsam verschlungene und nicht zerkaute Speise. Ein kurzes Beispiel für diese Erfahrung findet sich im Kapitel zur Gnade:
„Ich glaube nicht daran, dass ich etwas reparieren kann, das geheilt werden will. Halten, lieben und weinen sind fordernder, aber auch wirksamer und führen die eigentliche Heilung herbei.“
Von Gnaden
Das Aushalten führt uns zur eigenen Verletzlichkeit, die für Bodrožić nicht eine Schwäche, sondern eine Kraft darstellt, die zur Offenheit führt. Nur in der Wahrnehmung unserer Verletzlichkeit würden Denken und Empfinden zusammenkommen, so die Autorin. Ihre Texte sind keineswegs „gefühlig“, wie man heute es zuweilen nennt. Vielmehr zitiert Bodrožić gern bekannte Autor:innen aus Poesie, Politik und Philosophie, die ihr nahe sind, von Martin Luther King über Pier Paolo Pasolini bis Hilde Domin und Paul Celan – und nicht zu vergessen Simone Weil. Deren Werk „Schwerkraft und Gnade“ hat Bodrožić offenbar dabei begleitet, ihren eigenen Weg zur Bedeutung des Wortes „Gnade“ zu finden. Die dazu gegebenen Erläuterungen sind ein weiteres Beispiel für die poetische Kraft der vorliegenden Essays. Sie habe sich lange gefragt, was Gnade sei, so die Autorin. Dann sei ihr die Gnade im
Plural begegnet:
„Die Sonne geht zu Gnaden“ - wörtlich bedeutet das und meint: “Die Sonne geht unter.“ Sie geht zur anderen Seite der Welt, zur anderen Seite ihrer Möglichkeiten, so wie ich es tue, wenn es mit gelingt, in die innere Fähigkeit eines neuen Sehens zu gelangen, ohne mich durch die Gewalt eines anderen einsperren zu lassen. Ich muss also mit einem Menschen immer in die Nacht hinabsteigen, die einst in der frühen Kindheit eine Höhle im Karst hätte für mich sein können. Das Unsichtbare, es ist seit damals ein anziehender Ort für mich, in dem ich, alle Ambivalenzen überwindend, hineingehen möchte, ohne mich absichern zu müssen. Ich will sehen, welche Augen die Dunkelheit mir schenkt. Ich weiß, dass die Nacht ihre Zeit hat. Wenn ich zur Nacht gehe, dann geht auch die Nacht zu sich und kann mir mehr erzählen, mich wesenhaft zu Gnaden tragen. Meiner Sprache helfen, denn dann geht auch meine Sprache zu Gnaden und betrachtet sich selbst von der anderen Seite ihrer Buchstaben, die sich mit der Stille verbünden. Ich schaue zu und bin meine eigene Frage. Es gibt mich. Ich bin da. Ich bleibe an dem Ort des Seins und des Werdens, niemand kann mich auslöschen….“
Liegt hier nicht das Geheimnis einer wahrhaft menschlichen Existenz? Wie sähe eine Welt aus, in der die Menschen die Frage über die Antwort, die Stille über den Erregungslärm stellten und Augen für die Dunkelheit hätten? Wenn uns das Uneinnehmbare in uns selbst helfen würde, uns auf Frieden auszurichten statt auf Kampf, Verpanzerung und Versteinerung, wie sie sich in Ideologien und harten Positionierungen ausdrückt?
Marica Bodrožić : „Die Rebellion der Liebenden – Von der Verwandlung des Denkens in unsicheren Zeiten“
Erschienen 2024 im btb Verlag (Penguin Random House) - 208 Seiten, 16,- €
„Die Rebellion der Liebenden"
Die Fähigkeit nach innen zu hören:
Zum Buch „Die Rebellion der Liebenden" von Marica Bodrozic
von Frank Hahn