Jerusalemer Impressionen
Jerusalemer Impressionen zwischen Himmel und Erde
von Frank Hahn
Jerusalem, die himmlische Stadt, nicht die ideale. Eine solche wurde in Renaissance und Aufklärung schachbrettartig angelegt – das verbietet hier jedoch schon die Morphologie der judäischen Berge. Tatsächlich fragt man sich beim Anblick der von Häusern bewachsenen Hügel, ob Jerusalem gerade eben vom Himmel herabgestiegen ist oder in diesem Moment aus dem kahlen Stein der Berge herauswächst, jeden Morgen wieder.
Vor unserer Reise, der ersten ins Heilige Land, las ich vom berühmten Jerusalemer Stein, der je nach Farbempfinden gelblich, sandsteinfarben oder in einer hellocker-gelb-weißen Mischung mit einem leichten rosa Schimmer den gleichen matten Glanz über den Hügeln und in den Straßen verbreitet. Davon zu hören und es selbst zu sehen, ist jedoch zweierlei. Wäre Cezanne nach Jerusalem gefahren, hätte er sein ganzes Leben dort zubringen können, um jeden Tag und jede Stunde das je neue Farbenspiel zwischen Sonne, Schatten und dem Jerusalemer Stein auf seiner Leinwand zum Leuchten zu bringen. Gern hätte ich zu jeder Stunde nachgeschaut, wie der Stein der Häuser und der Stein der Wüstenberge miteinander funkeln, schweigen, glimmen. Allein damit könnte man in Jerusalem seine Tage verbringen. Ich aber war ja nicht nur zum Schauen dort, sondern zum geistigen und persönlichen Austausch, auf einer Konferenz über Franz Rosenzweig. Dessen Denken kreist bekanntlich in vielen, großzügigen und kühnen Bahnen um das Wörtchen „und“, ein Wort, das sich in den Steinen Jerusalems spiegelt, der Stadt des ewigen „und“. Lassen sich nur mit dem „und“, auf dem die Stadt aus dem Berg wächst und aus dem sie vom Himmel steigt, die Widersprüche aushalten, die den Besucher, der zum ersten Mal hierherkommt, aufwühlen?
Jesus und der Muezzin. Hier oben auf dem Ölberg soll er, Jesus, in den Himmel aufgefahren sein. Gelingen konnte dies scheinbar nur mit irdischer Unterstützung, d.h. mit einem kräftigen Absprung, dessen Fußabdruck hier oben in eine antike Marmorplatte eingraviert ist, unter der Kuppel einer kleinen byzantinischen Kapelle. Dabei ist weder die Marmorplatte aus biblischer Zeit noch die Kapelle aus byzantinischer, sondern von den Kreuzfahrern hier errichtet, aber so ist es in Jerusalem: nichts stimmt mit den sogenannten geschichtlichen Tatsachen überein – und zugleich ist alles so, wie es schon immer war und immer sein wird. Gerade folgt der Blick noch dem Fuß Jesu bei seiner Fahrt in den Himmel, und schon ertönt der anrührende Ruf des Muezzin zum Gebet von dem kleinen Minarett, das in die Mauer um die Kapelle eingelassen ist. Jesus hätte dieser Gesang gefallen, da bin ich mir sicher. Vielleicht so gut, dass er wieder umgekehrt wäre Richtung Erde.
Maria und Maschinengewehre. Der Leidensweg Jesu – die Via Dolorosa - ist lang, doch man sollte ihn mehr als einmal entlang laufen, da es passieren kann, dass man beim ersten Mal vor lauter Schreck das Wichtigste übersieht: den ersten Fall Jesu und seine Begegnung mit Maria, wovon Marmortafeln zeugen, die jedoch zu weiß, zu reinlich harmlos sind, um im Hintergrund schwerbewaffneter Soldaten wahrgenommen zu werden. Man biegt nichtsahnend um die Kurve, welche die Via Dolorosa hier macht, und starrt augenblicklich in den Lauf von fünf Maschinengewehren, gehalten von jungen Männern, auch Mädchen, die bestürzend jung erscheinen. Als naiver Europäer denkt man an Verbrecherjagd oder einen gerade geschehenen Mord in der arabischen Bäckerei gegenüber, doch die netten Jungs und Mädchen sichern nur den normalen Fortgang des normalen Lebens in einer Stadt, die das „und“ auszuhalten gelernt hat. Der Leidensweg darf seinen Namen auch heute tragen.
Basar und Apfelstrudel. Den Marmortafeln und Soldat*innen schräg gegenüber befindet sich das Österreichische Hospiz, auch dieses auf den ersten Blick kaum wahrgenommen, denn zu sehr sind die Sinne des Besuchers hier vom Geschehen des „orientalischen“ Basars gebannt. Es wird gefeilscht und gerufen, junge arabische Mädchen kosten ungeniert eine Erdbeere nach der anderen vom großen Gemüsewagen, in leicht finsteren Auslagen dampft der Weihrauch neben nicht mehr ganz frischem Fisch, und die farbenfrohe Pyramide aus Safran, Kreuzkümmel, Kardamom und weiteren Gewürzen kitzelt die Nase. Alte Männer in Arafat-Tracht und junge Frauen im Niqab streifen vorbei, und dann der Hinweis am Eisentor des Hospizes: Zutritt mit Waffen verboten. Unschuldig und unbewaffnet wie wir sind, streben wir dem besten Apfelstrudel des Heiligen Landes zu, dessen Genuss im Café des Hauses nur durch die zu lauten, da schon nachmittags bierseligen Alpenländler geschmälert wird. Padres und Nonnen schlurfen über die Gänge, an denen eine Tafel an den Kaiser Franz Joseph erinnert, auf den nicht nur der Bau des Hospizes zurückgeht, sondern der sich seinerzeit den Titel König von Jerusalem zugelegt hat. So viele Könige hat diese Stadt im Laufe der Geschichte gehabt – von David bis zu Franz Joseph und Kaiser Wilhelm, von Mohammed bis General Allenby und dem Großmufti. Kein Wunder, dass jeder gern einmal König spielen möchte, oder eben keiner, weil alle schon einmal König waren und es damit reichlich gewöhnlich geworden ist, das Königtum. Eine Zeit ohne König – Jerusalem täte es gut, und es scheint im Moment königslos glücklich, wenn man das frohe Treiben auf Straßen und Plätzen, in Kneipen und Hörsälen beobachtet. Von der Terrasse des österreichischen Hospizes, gut beflaggt mit der Fahne der Alpenrepublik, hat man eine beeindruckende Aussicht auf Jerusalems Altstadt: den Felsendom, armenische, griechische und protestantische Kirchen sowie Minarette. Fast möchte man ausrufen: es geht doch, das Zusammenleben der vielen Konfessionen. Typische Verklärung des von oben herab Schauenden? Oder findet der unschuldige Ausruf Bestätigung hier und da, im Kleinen?
Krieg und Frieden. Wo findet man noch Hinweise auf die ehemalige Grenze zwischen Israel und Jordanien? Plötzlich biegt die einzige Straßenbahn Jerusalems an der Mauer der Altstadt scharf nach links ab, und an den Geschäften, Banken und Hotels hängen ebenso plötzlich arabische Aufschriften. Keine Passkontrolle, keine Mauer, nicht mal ein Soldat oder zumindest ein Gewehrlauf, in den man zu blicken gezwungen wäre. Wir sind im Osten Jerusalems und haben es kaum gemerkt. Doch ein paar hundert Meter weiter steht ein Haus, mit zerschossenen Balkonen und Einschusslöchern wie das Hotel Stuttgarter Hof im West-Berlin des kalten Krieges. Hier, so heißt es, war bis 1967 die Grenze, und in diesem Haus hatten sich Soldaten verschanzt. Heute dient es als Friedensmuseum, in dem wechselnde Ausstellungen moderner Künstler zum Thema Krieg und Frieden gezeigt werden.
Bei unserem Besuch lief die Ausstellung „Hiroshima“ von Künstlern aus Israel, Deutschland, Japan und dem Iran. Im Eingang kann man den Brief studieren, den Günter Anders an den Piloten Eatherly geschrieben hat, der die Bombe auf Hiroshima abgeworfen hat, sich der Tragweite seines Handelns nicht bewusst. Die 200.000 Toten von Hiroshima veranlassen Anders zu den berühmten Worten über die neue und veränderte conditio humana: „Wir können mehr herstellen, als wir uns vorstellen können; und die Auswirkungen menschengemachter Maschinen sind so ungeheuerlich, dass wir unfähig sind, uns vorzustellen, was wir damit anstellen.“ In Jerusalem braucht man keine Atombombe, um die Bedeutung dieser Worte zu verstehen. 100 Jahre Konflikt in der Region führen vielleicht dazu, dass man es sich eher vorstellen kann, den Frieden herzustellen, als immer wieder dasselbe anzustellen. Oder wird so viel angestellt, dass sich kein Frieden je herstellen lässt? Auch das wäre vorstellbar. Doch Alle, die wir sprechen, erzählen von der Sehnsucht nach Frieden. Und davon, dass man zusammenleben kann, wenn man will, und es muss, um zu überleben, und es tun wird, weil es nicht anders geht. Eines Tages. Shalom.
Juden und Moslems und Christen. In der Altstadt herrscht schon Frieden. Oder nur trotziges Wegschauen, wenn der Andere vorbeiläuft? So wie unter Kindern, die leicht genervt beteuern, sie würden den Nachbarsjungen nicht mehr verprügeln, aber angucken müssten sie ihn schließlich auch nicht? Orthodoxe Juden rennen in erkennbarem Aufzug durch das muslimische Viertel, hin und wieder gefolgt von einem Franziskanermönch. Es passiert nichts. Gefragt nach dem Weg ins armenische Viertel reagiert ein Jude so, als hätte er noch nie von dessen Existenz gehört. Vor der Klagemauer nach dem Zutritt zum Tempelberg gefragt, sagen die israelischen Sicherheitsleute zu jeder Tageszeit „Closed“. Aber man schießt nicht aufeinander, man lebt nebeneinander wie die Kinder, die die Raufereien irgendwann satthaben. So ist der erste Eindruck, der täuschen mag. Und zwar nach zwei Seiten: wir wissen nicht, wie schnell eine Lage entstehen kann, in der wieder geschossen wird. Wir wissen aber auch nicht, wie viele in der Altstadt eine gute Nachbarschaft über Konfessionsgrenzen hinweg pflegen. Doch selbst ein stummes, trotziges Nebeneinander ist schon besser als all die Kriege der Vergangenheit: Vor 50 Jahren wurde die Klagemauer im Krieg zurückerobert, und der jüdische Teil der Altstadt lag noch in Trümmern, nachdem die arabischen Streitkräfte im Krieg von 1948 die Häuser zerstört hatten. Die Religionen sind schuld, sagen manche, nicht der Glaube an Gott, denn über ihn wissen wir nichts, aber die Rechthaberei und die Legenden, die aufgebaut werden, um zu beweisen, dass man selbst die einzig wahre Religion besitze. Die Muslime behaupten, es habe hier nie einen jüdischen Tempel gegeben, vielmehr sei die Heiligkeit des Ortes auf Mohammeds Pferd zurückzuführen, das den Religionsstifter in nur einer Nacht von Mekka nach Jerusalem befördert habe, wo Mohammed vom Tempelberg aus in den Himmel aufgestiegen sei, um die Gebote Gottes zu empfangen. Seitdem gilt der Felsendom von Jerusalem als drittes muslimisches Heiligtum nach Mekka und Medina. Nicht-Muslimen wird der Zugang zur Moschee verweigert, den Platz vor dem Felsendom dürfen sie nur zu bestimmten Zeiten betreten, die stets wechseln.
Ich wäre gern auf den Tempelberg gegangen, die Pracht des Felsendoms aus der Nähe zu schauen, dessen goldene Kuppel über Jerusalem leuchtet und von fast überall her den Blick auf sich zieht, mit seinen Strahlen Augen und Sinne berauscht. Nicht alles Gold glänzt, heißt es – und dieses hier erscheint matt und grau und mit Blutspuren versetzt, sobald man weiß, dass es der Großmufti anbringen ließ, Hitlers Verbündeter im Nahen Osten. Und doch kann man sich an den Bildern der Stadt von den Hügeln aus nicht sattsehen, in der Mitte der Mauern, Türme und Häuser das glänzende Gold. Könnte der Tempelberg nicht Heiligtum für Alle werden? Ein Ort gemeinsamer Gebete, ein spiritueller Ort zum Meditieren und um einander zu begegnen? Ist das nur grenzenlose Naivität eines deutschen Romantikers? Immerhin begnügen sich die Juden heute mit der Klagemauer als heiligem Ort, obwohl nach der ältesten bekannten Überlieferung der Tempelberg zuerst für die Juden heilig gewesen sein soll: hier soll Jakob den Traum von der Himmelsleiter gehabt haben und Abraham beinah seinen Sohn geopfert haben, außerdem sei der Felsen hier das Fundament der jetzigen und künftigen Welt.
Der Zutritt zur Klagemauer war Juden lange Zeit verwehrt, heute ist sie wieder zugänglich. Und seit einigen Jahren steht auch die große Synagoge im jüdischen Viertel wieder, die in den letzten 200 Jahren von arabischer Seite dreimal niedergebrannt wurde. Vielleicht könnte das Kunstmuseum nach Hiroshima Bilder zeigen vom Tempelberg als Ort aller Religionen, zu dem auch Säkulare Zutritt haben. Doch vorerst scheint sich kein Künstler an das Thema zu wagen. Vielleicht fürchten sie einen Bildersturm. Besucht man das Allerheiligste der Christen in Jerusalems Altstadt, könnte man solch eine Befürchtung verstehen: die Massen, die in die Grabeskirche Jesu drängen, sind zumeist Pilger, und die sprechen deutlicher mit dem Ellenbogen und dem Regenschirm als mit der Zunge. Denn auch sie haben ja so Recht mit ihren Schirmen und den ruppigen Rippenstößen, als Erleuchtete der einzigen und wahren und ewigen Religion. Zum Glück sind sie nach dem Gerangel vor Jesu Grab so erschöpft, dass sie es zum Tempelberg meist nicht mehr schaffen. Und auf den Berg haben sie bisher auch noch keinen Anspruch formulieren können, denn Jesus fuhr ja vom Ölberg hinauf in den Himmel.
Oben und unten. Die goldene Kuppel des Felsendoms erleuchtet die Stadt – doch von unten, denn der Tempelberg, heilig wie er ist, strahlt von innen, er braucht sich nicht mit den anderen Bergen Jerusalems in der Höhe zu messen. Das Hohe liegt hier tiefer, und das Untere formt die Erhöhung, auf der man dann oben steht und staunt. So am Ölberg, wo es die Gräber aus Jahrhunderten sind, aus deren steiniger Steillage der Berg langsam zur Höhe wächst. Oben angekommen, gönnen wir dem Blick den freien Fall – und wieder trifft er unten auf das Gold, überall ist die Kuppel Mittelpunkt. Lassen wir den Blick nicht frei sausen, sondern gebieten ihm zu suchen und tastend ein Panoramabild zu malen, führt der Weg zur goldenen Mitte über das große jüdische Gräberfeld und den kleineren muslimischen Friedhof vor der Mauer der Altstadt. Später steigen wir sogar in den Berg hinein in feuchtes Dunkel, nur durch den schwachen Schein einer Kerze und das Vertrauen in den sicheren Schritt vor dem Stolpern geschützt, und schauen in noch größere Finsternis: hier sollen drei Propheten begraben sein. Von unten wieder aufsteigend, schauen wir erneut von oben auf die alte Stadt und die neue dahinter und weiter in die Ferne zu den Bergen Judäas und noch neueren Vorstädten. Wie wohl tut die Gegenwart der Toten, uralte Stätte aus biblischer Zeit, als ob Abrahams und Jakobs und Jesajas Stimmen von den Zypressen und den Olivenbäumen herüber rascheln. Der Lärm der Pilger und der Touristen verhallt, die biblischen Stimmen hüllen uns ein in Stille, und ein friedliches Licht legt sich über den Garten Gethsemane, über die goldenen Türme der russischen Kapelle daneben, und über das ganze, große, gelbe, schimmernde Jerusalem, und vor der Kirche Dominus Flevit – der Herr weinte – öffnet sich ein neuer Blick, obwohl weiter unten, in neue weite Höhen, die gut benetzt scheinen, grün duftend, denn der Jerusalemer Stein verbreitet nicht nur Glanz, sondern entlässt aus seinen Fugen auch hier und da ein paar Tränen, welche die Risse im Stein der Häuser und der Berge heilen. Der Blick von oben wird nicht satt, er saugt Licht und Tränen von den Bergen und der Stadt, der Blick von unten gleitet staunend immer wieder nach oben an den Berghängen entlang, das Wunder betrachtend, wie der Stein sich bewegt, sich wellt, weil überall aus dem kargen Weißrosa die Stadt sich schält, immer wieder neu geboren. Und dies Schweifen und Steigen findet kein Ende, denn nach jedem Abrollen des Landes folgt ein sanfter Himmelsflug der Stadt, nach jeder schroffen Schlucht erblickt man Schafe an kargen Grashängen und plötzliche Waben von weißgelben Häusern. Welle auf Welle, Hang auf Hang, hinauf und hinab – oben ist zugleich unten und unten ist oben. Wir sind bewegt und bleiben in Bewegung auf Jerusalems Steinwellen.
Unten und oben. Der Fahrstuhl des Hotels saust unaufhörlich rauf und runter, seine Insassen sind am Ende des Shabbat zumeist fromme Juden. Wir, die Nicht-Juden, sind die Exoten, und dazu noch deutsch sprechend. Unten, im Erdgeschoss, kurz vor der Auffahrt, sprechen uns zwei der Frommen an, mit großen Fellhüten. Woher wir denn kämen, aha Berlin, da zöge es sie auch schon immer hin, aber bisher seien sie meist nach Italien gefahren, aber auch dort hauptsächlich Venedig, natürlich, die Stadt des ersten Talmuddrucks, von Florenz vergaßen sie den Namen und freuten sich, als wir ihn nannten. Herzliches Verabschieden oben im 19.Stock. Später wollen wir von oben nach unten – im 18.Stock angekommen, scheint der Fahrstuhl zu stocken, als ein anderer Frommer uns fragt, aus welcher Stadt in Deutschland wir kämen. Als er nach der Nennung des Namens Berlin nicht reagiert, glaube ich noch, er habe vielleicht nicht verstanden, denn im Englischen betont man doch eher die erste Silbe, nicht die zweite wie im Deutschen. So wiederhole ich den furchtbaren Namen – und der Mann nickt, schlägt erst die Augen nieder, starrt dann leer in den nach unten sausenden Fahrstuhl. Beklemmung breitet sich aus, die für die nächsten Stunden nicht weicht. Wir sind ja gerade erst in Israel gelandet. Schlimmer wäre vielleicht nur der Name Nürnberg gewesen – oder auch nicht, denn dort wurde immerhin später gerichtet. Deutsche und Juden. Die Gartenstadt, als die das Viertel Rechavia einst von deutschen Bauhaus-Architekten geplant und angelegt wurde, entzückt immer noch durch die prächtige Vegetation vor den Vitalität verströmenden Stadtvillen der 1920er und 1930er Jahre bis hin zu heutigen Bauten, die sich im Stil nicht groß unterscheiden. Vor allem: jedes Haus strahlt oder glimmt im Jerusalemer Stein wie zu biblischen Zeiten. Die Villen bieten denn auch für jeden Geschmack etwas: modern, mondän, nostalgisch, abgewohnt, verwunschen, niedlich, grün-alternativ, bürgerlich. Hier durch die Straßen zu schlendern ist pure Erholung. Und zugleich kommt eine Beklemmung eigener Art auf, begegnet einem hier doch plötzlich mit Wucht das andere Deutschland jener 1920er und 1930er Jahre, das ausgewandert war, um anderen Auswanderern den Weg zu ebnen. Voller Schmerz überkommt einen die so sinnlose Frage, warum dieses Deutschland zu schwach war, sich den Fanatikern und Mördern entgegenzustellen, die kurz darauf das Land übernommen haben. Und dann plötzlich lache ich unwillkürlich, als ich die Stimmen der korrekt gekleideten deutsch-jüdischen Akademiker aus dem Gemäuer vernehme, wie oben vom Ölberg die Stimmen der biblischen Väter: hier heißen sie Scholem, Buber, Bergmann, Simon, und die Frauen nicht zu vergessen, Lea Goldberg, Else Lasker-Schüler, Mascha Kaleko. Und Amos Oz kommt einem in den Sinn, der, als sein Vater ihn auf diesen oder jenen Gelehrten mit dem Hinweis aufmerksam macht, hier ginge ein Mann von Weltruf, meinte, Weltruf sei der Name für kranke Beine, da diese berühmten Männer mit vorsichtigen Schritten, gebückt und humpelnd, den Hang Rechavias mühsam erklommen oder hinunter wackelten – vielleicht zum Nachmittagskaffee oder zum Hauskonzert, im wollenen Anzug selbst im Sommer bei 40 Grad. Dies alles erfüllt mich beim Streifen durch die üppig grünen Gärten vor den Bauhausfassaden mit Wehmut und Komik. Es ist idyllisch hier, die Restaurants gediegen, aber nicht mondän, die Straßen ruhig trotz des Verkehrs, weil man nicht hektisch rast, sondern gemächlich die Hänge hinauf gleitet, auch im Auto. Und nur wenige Straßen weiter bergab besichtigen wir das Mühlenviertel, die erste jüdische Siedlung der neueren Zeit außerhalb der Stadtmauern. Eine Gartenstadt des 19.Jahrhunderts, als noch kein Auto fuhr, mit Terrassenhängen, Springbrunnen, wiederum üppig wuchernden mediterranen Gärten und einer Heinrich-Heine-Straße vor der Mühle, die der britische Sir Montefiore als Mäzen und Bauherr dieser Siedlung hier zur Selbstversorgung der Kolonisten errichten ließ. Und der Blick schweift wieder weit von diesem Kleinod der Architekten und Gartenmeister – hin zur Altstadt, zum Ölberg und zu den judäischen Bergen. Jerusalem die idyllische Stadt, luftig gebaut, die Häuser hingetupft an die Hänge, keinen Blick versperrend, Palmen neben hellen Wüstenhäusern, gebaut von deutschen und europäischen Menschen für andere deutsche und europäische Brüder und Schwestern im Geiste, damit sie hier ungestört vor Verfolgung studieren und schreiben, debattieren und dichten und musizieren, ja einfach leben konnten. Eine Art Jerusalemer Sommerfrische auf der anderen Seite des Berges, fern von der Hitze des alten und neuen religiösen Streits, fern vom Eifer der Fanatiker jedweder Couleur.
In dieser ruhigen Gegend treffen wir denn auch einige Gesprächspartner in dem einen oder anderen Café, um zu hören, wie kluge Menschen die Lage im Land einschätzen. Wir treffen ein Schweizer Ehepaar, beide Partner leben als Wissenschaftler*in seit 50 Jahren in Israel, einen liberalen Rabbi und einen Professor für jüdische Philosophie. Die Schweizer erzählen uns, dass die Israelis ein glückliches Volk seien, und nach dem Ranking, das irgendwelche Agenturen erstellen, sogar glücklicher seien als die Schweizer. Was für ein Vergleich! Ich überlege noch, welche Gründe es für einen Schweizer geben sollte, glücklich zu sein, als unser Gesprächspartner ausführt, wie die jungen Menschen in Israel das Gefühl der Freiheit genössen und wie wenig sie reglementiert würden, auch die Kinder nicht. Natürlich sehnten sich Alle nach Frieden, aber mit wem solle man verhandeln? Amos Oz wird viel gelesen in diesen Zeiten, und gern wird er zitiert mit dem Sprichwort „Man kann nicht mit einer Hand in die Hände klatschen“. Soll sagen, die Palästinenser müssten sich untereinander einigen, die Korruption bekämpfen und eine vernünftige Verwaltung aufbauen, um verhandlungsfähig zu sein. Es sei ein Skandal, dass Gelder, die von Israel überwiesen werden, nicht bei den Menschen ankommen, die unter der Verwaltung der PA stünden. Aber eines Tages werde es Frieden geben, weil beide Seiten langsam einsähen, dass sie aufeinander angewiesen seien. Und seit kurzem gebe es auch auf der politischen Bühne das erste Mal eine ernstzunehmende Alternative zu Netanyahu. Die starke Zuversicht, die wir immer wieder spüren, das überraschende Vertrauen in die Zukunft, das sich in vielen Gesprächen zeigt, kontrastiert auf fast wundersame Weise mit der europäischen Sicht auf das „Krisengebiet Nahost“, wo der ferne Blick vor allem immerwährenden Raketenbeschuss auf allen Seiten oder unmittelbar bevorstehenden Krieg wahrnimmt. Eine starke Quelle der Zuversicht scheint – abseits der großen Politik – die jüdische Tradition des gemeinsamen Lesens und des dialogischen Denkens zu sein. So erzählt uns die Frau des Schweizer Ehepaares, dass überall im Land jüdische Lehrhäuser entstünden, in denen säkulare Juden die alten Texte studierten: Mischna, Talmud und Sohar, auch kabbalistische Texte. Hier entstünde etwas Neues: ein Judentum nicht der religiösen Fanatiker, sondern der Einwurzelung in die Sprache und damit das Dialogische, das Für und Wider als lebendiges Element des Alltags und des Miteinander. Auch andere Dialogrunden breiteten sich aus, an denen Juden und Araber, Moslems, Christen und Äthiopier sowie säkulare Menschen teilnähmen, um sich im zwanglosen, aber offenen Gespräch miteinander auszutauschen. Gesprächsrunden, die es erlaubten, Gefühle zu äußern ohne Angst vor Urteilen und Bewertungen. Bevor wir uns denn doch zu sehr in einer Idylle wähnen, bringt ihr Mann eine nüchterne Prise Wirklichkeit zum Schluss in das Gespräch. Mit einem Satz. Die Juden hätten gelernt, so sagt er, dass alle Versuche der Assimilation sie nicht vor Verfolgung und Ermordung geschützt hätten. Diese Erfahrung habe sich tief eingebrannt in das kollektive Bewusstsein. Nie wieder bedeute in Israel wirklich nie wieder. Nie wieder werde man schwach sein, sondern wehrhaft und nicht weichen. Wir nicken, und erneut stellt sich eine gewisse Beklemmung ein. Aber wir, die Nachgeborenen haben niemanden ermordet, sagt uns der Verstand. Aber wir, die Nachgeborenen, dürfen Schmerz und Scham empfinden. Vielleicht erwartet man das von uns. Es soll keiner sagen, dass die Begegnung zwischen Israelis und Deutschen unkompliziert oder gar völlig normal wäre.
Zwei Tage später hören wir von dem Professor für jüdische Philosophie in seiner privaten Bibliothek erneut Beispiele für dialogische Begegnungen und lernen, dass sich in Israel etwas unterhalb des Radarschirms der Nachrichtenwelt bewegt, das offenbar von existentieller Bedeutung ist. Der Professor erzählt von unzähligen Begegnungen im Kleinen zwischen Juden und Arabern, teils spontan, teils organisiert in Gemeinschaften, bei denen es um den Dialog geht, das Kennenlernen, das miteinander Beten, das religiöse Gespräch, das alltägliche Gespräch. All dies passiere sozusagen im Verborgenen, es erscheine nicht in Zeitungen und Reportagen. Man könne es noch einfacher sagen: die Religion treffe man auf der Straße, mehr noch als in Moscheen und Synagogen, die sogenannten einfachen Menschen, die den Anderen als Anderen annehmen, ohne zu fragen, wer er sei, für die Nächstenliebe kein pompöses Programm sei, sondern selbstverständliches aufeinander Eingehen im Alltag, wo man einander zuhört, sich helfend zugewandt, unabhängig von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit. Er erzählt von seinem muslimischen Apotheker, der ihn, den Juden, schon mal darauf hinweise, dieses oder jenes Präparat besser nicht zu nehmen, da es nicht koscher sei. Von jüdisch-arabischen Schulen ist die Rede, deren Anzahl wachse. Ein anderes Beispiel für das Miteinander selbst in umkämpften Gebieten wird erwähnt: in Haifa hätte es kürzlich Streit zwischen Juden und Arabern gegeben, bis der Rabbi und der Imam gemeinsam auf die Straße gegangen seien und den Leuten ins Gewissen geredet hätten. Sofort sei Ruhe eingekehrt. Alles Geschehnisse, die man nicht in den Zeitungen lese oder in den Nachrichten höre. Aus solchen Begebenheiten schöpfe er seine Zuversicht. Gefragt danach, wie er die Zukunft sehe, sagt er spontan: sehr optimistisch. Wir sind etwas sprachlos, und er korrigiert sich, nein, Optimismus sei ein zu technischer und zu starker Begriff, besser sei Vertrauen und Zuversicht. Er erlebe eben, dass beide Seiten in diesem jahrhundertalten Konflikt zunehmend verstehen würden, dass sie miteinander leben müssten, da sie nun einmal auf engem Raum zusammen wohnten. Und für dieses Miteinander entstünden eben in kleinen Kreisen und Inseln gerade die Bedingungen eines zwischenmenschlichen Gesprächs, jenseits der verhärteten politischen Frontlinien. Er wiederholte die Warnung, sich eine Meinung nur aufgrund von Medienberichten zu bilden. Und dann sagte er etwas, das wir fast wörtlich am Tag zuvor von dem liberalen Rabbi auch schon gehört haben. Einen Appell an uns Deutsche und Europäer, wir sollten nicht in die Falle tappen, für die eine oder die andere Seite Partei zu ergreifen! Wir waren erstaunt über das Wort Falle und über die geradezu emphatische Ausgewogenheit und das fast schmerzliche Flehen des Rabbiners, beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Beide, Israelis wie Palästinenser, hätten tragische Fehler gemacht, die zu Verletzungen, Wut und Trauer, Verbitterung und Sprachlosigkeit auf beiden Seiten geführt hätten. All dies stünde einer Lösung momentan noch im Wege – aber auf Dauer werde es Frieden geben, man könne die Einzelheiten eines Abkommens recht schnell erarbeiten. Und die Einsicht wachse, wobei er die Worte unseres anderen Gesprächspartners beinah wiederholte, dass man aufeinander angewiesen sei und also in Frieden miteinander leben müsse. Auch er war zuversichtlich – insofern gelte es für uns Europäer, nicht vorschnell einseitig zu urteilen, sondern zu verstehen, dass beide Seiten Anspruch haben auf die Wahrnehmung ihrer Interessen und auf Gerechtigkeit. So waren seine Worte. Die Lage sei ungeheuer komplex, und in ihren Einzelheiten manchmal kaum für die hier lebenden Menschen zu verstehen, also erst recht nicht für Europäer. „Kommen Sie hierher als Touristen, bereisen Sie das Land, erleben Sie die Kultur und sprechen mit uns, aber ergreifen Sie nicht Partei“, so sagte er. Zweimal wird dieser Appell an uns herangetragen, dies gibt uns zunächst so etwas wie Entlastung, doch zugleich hören wir darin auch die deutliche Botschaft „Haltet Euch als Deutsche besser heraus aus unseren Angelegenheiten. Dann kommt es auch nicht zu unschönen Begegnungen, wenn ihr meint, die israelische Politik kritisieren zu müssen, die wir vielleicht aktuell auch nicht so besonders gelungen finden, aber wenn es darauf ankommt, dann sind wir in erster Linie Juden und werden immer unser Land verteidigen…“ Warum fordern unsere Gesprächspartner dann nicht ein deutlicheres Bekenntnis von den Deutschen? Für den Staat Israel? Einerseits wird man dies für selbstverständlich halten, sonst wäre jedes Gespräch von vornherein nicht weiterführend, zum Anderen aber, so sagte uns der Rabbi, wären allzu laute Bekenntnisse von draußen der Selbstkritik Israels nicht dienlich. Also wünscht man sich von uns vor allem: Zuhören, Schauen, miteinander Sprechen und sich überraschen Lassen. Dazu gehört zweifellos, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Israel letzter Zufluchtsort war für die Juden, die in Europa über Jahrhunderte verfemt, verfolgt und schließlich vernichtet wurden. So berichtet der Rabbi, dass sein Vater als einer der letzten in Deutschland noch seinen Doktor hätte ablegen können, bevor er sich 1939 nach Palästina ein geschifft habe, während seine Eltern es nicht mehr geschafft und also nicht überlebt hätten. Fast alle Israelis könnten ähnliche Geschichten erzählen, vor denen wir als Deutsche zunächst verstummen.
Yad Vashem – Denkmal und Name. „Und ihnen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen („Yad Vashem") geben … der nicht getilgt werden soll", so heißt es im Buch Jesaja. Franz Rosenzweig schreibt über die Bedeutung des Namens: „Mit dem Anruf des Eigennamens trat das Wort der Offenbarung in die wirkliche Wechselrede ein; im Eigennamen ist Bresche in die starre Mauer der Dinghaftigkeit gelegt. Was einen eignen Namen hat, kann nicht mehr Ding, nicht mehr jedermanns Sache sein…“ Es gibt kaum eine Dokumentation des mörderischen Geschehens, das wir Holocaust oder Shoah nennen, die detailreicher wäre als hier in Yad Vashem. Taten und Täter, Opfer und Widerstandskämpfer in fast allen europäischen Ländern werden anhand von Bildern, Dokumenten, Videos und Erklärungen präsentiert. Ein französischer Philosoph, ich glaube es war Lyotard, hat einmal über die Unmöglichkeit der Darstellung des Holocaust gesprochen, und er hat recht und unrecht zugleich. Das deutsche Wort Er-innern fordert uns auf zum Innewerden, zum Hinabsteigen ins eigene Innere als dem Ort, an dem sich der Einzelne den Fragen stellt, die kein Bild beantworten kann. Und für dieses Er-innern bietet Yad Vashem Räume, Weiten und Geländer in einem Gelände, an denen der Einzelne Halt findet beim Abstieg ins eigene Innere. Verlässt man die Ausstellung, begeht man zunächst die Halle der Namen, um dann am Ende auf einer Terrasse vor hohen Kiefern zu landen, und der Blick schweift in die Ferne des judäischen Landes, grüne Hügel, weiße Siedlungen liegen vor einem. Noch unter der Kuppel, in der eineinhalb Millionen Namen von Ermordeten versammelt sind, erhebt sich im Schweigen und Eingedenken ein winziger Moment erleichternden Ausatmens. Hier wird ihrer gedacht, die Namen sind da, eine Bresche gelegt in die Mauer des Vergessens, noch nicht alle, aber es werden weitere kommen zu dieser Versammlung. Dann, auf der Terrasse beim Blick ins kleine, weite, große Land Israel kommt mir nur ein Satz auf die Lippen: welch ein Glück, dass es dieses Israel gibt, das den Verfolgten endlich Schutz bietet. Weitere Namen werden aufgerufen: in der Gedenkstätte der Kinder, im Finstern, wo jeweils kurz ein Sternchen auflodert, wenn der Name genannt wird: Sara, 11 Jahre, geboren in Lublin. Und so ohne Unterlass all die Namen der ermordeten Kinder. Erschüttert stehen wir noch einmal vor Janusz Korczak wie schon in Warschau, hier hält er noch inniger die Kinder in seinen Armen, die er in den Tod begleitet. Und er schaut nach innen im Schmerz, und er schaut nach vorn in einem seltsamen Licht, das den Tod in sich aufgenommen hat und doch weiterschaut. Wenn man diesem Licht folgt, beginnt der Weg durch den Garten der Gerechten. Tausende von Bäumen in weiten Wegen den Berg hinab und hinauf, für jeden, der sein Leben eingesetzt hat, um Juden zu retten. Ein Weg, den man immer und immer wieder gehen kann, ein meditativer Pfad der Namen. Jeder Name ist heilig, heißt es, denn er ist nur ein weiterer Name Gottes. Der Weg führt weiter und weiter über die Berge zum Meer, in die Wüste, das Land ist noch weit, es werden mehr Menschen kommen, um im Namen zu leben. Und wieder kommt mir Amos Oz in den Sinn, der den Moment beschreibt, als die UNO im November 1947 dem Teilungsplan des Landes zustimmte, was Voraussetzung für die Ausrufung des Staates Israel ein halbes Jahr später wurde. Sein Vater lag an diesem Morgen des 30.November mit dem kleinen Jungen Amos unter einer Bettdecke und erzählt ihm von den gojischen Jungs im polnischen Gymnasium in Wilna, was sie ihm angetan hätten, und als am nächsten Tag sein Vater (Amos’s Großvater) in die Schule gekommen sei, um sich zu beschweren, hätten ihm die Rowdys nicht etwa die zerrissene Hose wiedergegeben, sondern seien vor seinen Augen auch über seinen Vater hergefallen, hätten ihn mit Gewalt aufs Pflaster geworfen und auch ihm mitten auf dem Schulhof die Hose ausgezogen, und die Mädchen hätten gelacht und unflätig daher geredet, die Juden seien alle so und so, und die Lehrer hätten zugesehen und nichts gesagt oder vielleicht sogar mitgelacht. Und dann sagt der Vater zu Amos: „Bestimmt werden auch dir noch öfter irgendwelche Rowdys auf der Straße oder in der Schule zusetzen. Möglicherweise werden sie das deshalb tun, weil du mir ein bisschen ähnlich bist. Aber von jetzt an, von dem Augenblick an, wo wir unseren eigenen Staat haben werden, von nun an werden dir die Rowdys nicht mehr zusetzen, weil du Jude bist und weil Juden so und so sind. Das – nicht. Niemals. Von dieser Nacht an ist hier Schluss damit. Schluss für immer.“…„Und ich streckte schläfrig die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren“, fährt Oz fort, „etwas unterhalb seiner hohen Stirn, und statt seiner Brille spürten meine Finger plötzlich Tränen. Kein einziges Mal in meinem Leben, nicht vor dieser Nacht und nicht nach dieser Nacht habe ich meinen Vater weinen gesehen…“ Wenige Stunden später begann im Übrigen der Krieg der arabischen Nachbarn gegen den künftigen Staat, ein Krieg, der über ein Jahr dauern sollte. Dies schreibend tue ich vielleicht das, wovor zwei unserer Gesprächspartner gewarnt haben. Ich ergreife Partei – für Israel. Also gegen die Palästinenser? Nein, für beide Seiten. Denn die soeben zitierte Passage führt im weiteren Text von Oz zu seiner Klage, dass beide, Juden wie Araber, immerhin Verfolgte seien, und sich zusammentun sollten statt sich zu bekämpfen. Verfolgte des europäischen Antisemitismus und des europäischen Kolonialismus. Können sich irgendwann die Verfolgten zusammentun? Oder vielleicht aufhören, sich nur als Verfolgte zu sehen?
Wir gehen von Yad Vashem den schattigen Weg am Herzlberg zurück zur Straßenbahn, die von hier direkt in 45 Minuten weit in den Ostteil der Stadt fährt, wo mehrheitlich Palästinenser wohnen. Wir fahren bis zur östlichen Endstation und sehen Menschen, die ihren Geschäften nachgehen, von der Arbeit kommen, Jugendliche, die sich amüsieren möchten – genau wie im Westteil. Und fragen uns, ob wohl die Straßenbahn genutzt wird von arabischen Jugendlichen, um in weniger als einer Stunde, ohne Umsteigen, nach Yad Vashem zu fahren. Wir hören später, dass es solche Fahrten gibt, solche Jugendlichen, die das Denkmal der Namen besuchen, nicht viele, aber hin und wieder doch einige. West und Ost, Denkmal und Name, Verfolgte und Verfolger – die Stadt des ewigen „und“.