Literatur als „Lebensmittel“
Ottmar Ettes Buch ZusammenLebensWissen fordert die Life Sciences heraus
Spätestens als vor 10 Jahren das Jahr der Lebenswissenschaften ausgerufen wurde, avancierten die sog. Life sciences zur Leitwissenschaft.
Aber erklären sie wirklich das Leben?
Der Romanist und Literaturwissenschaftler Ottmar Ette hat die wohl markanteste Herausforderung an Neurologen und Biologen, an die Wissenschafts- und Bildungspolitik formuliert: Die eigentliche Lebenswissenschaft sei die Literaturwissenschaft. Wovon denn handle Literatur, wenn nicht vom Leben?
In seinem Ende 2010 erschienenen Buch ZusammenLebensWissen nach ÜberLebensWissen und ZwischenWeltenSchreiben als dritter Band im Kadmos-Verlag erschienen formuliert es der Autor so: Die Literatur erfindet den Horizont des Neuen, Künftigen und ist damit der Wissenschaft stets um eine Nasenlänge voraus. Was hier kühn erscheint, leuchtet sofort ein, wenn wir Leben als Erleben, Überleben und Zusammenleben auffassen.
von Frank Hahn
Mit seinem neuesten Buch „ZusammenLebensWissen“ möchte Ottmar Ette einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen auf unserem Planeten leisten. Seit dem 11. September 2001 ist dieser Anspruch fast täglich und vielfältig von Politik und Wissenschaft, Philosophie und Religion, Theater und Kunst ausgesprochen worden.
Fast im Übermaß wird hier seit 10 Jahren mit wohlfeilen Worten gehandelt, die dadurch zunehmend schon verblasst sind und häufig Überdruss erwecken. Gibt es aber vielleicht tatsächlich noch etwas, was bisher nicht gesagt wurde, sodass ein Buch zum Thema des Zusammenlebens verschiedener Kulturen überraschende und originelle Einsichten böte? Dieses „etwas“ hat Ottmar Ette entdeckt: Es sind die Literaturen aus den verschiedensten Regionen der Welt, die uns ein Wissen darüber vermitteln, wie die unterschiedlichen Logiken diverser Sprachen, Kulturen und Denkformen als gleichzeitige erlebt, erprobt und zusammen gelebt werden können! Die Literaturwissenschaft bekäme plötzlich den Glanz eines gesellschaftlichen Nutzens? Sollten die Geisteswissenschaften doch etwas zum gesellschaftlichen Mehrwert beitragen? Wohlgemerkt: Gesellschaftlicher bedeutet nicht ökonomischer Mehrwert im Sinne kurzfristigen Renditedenkens.
Lebensmittel Literatur
Aber Begriffe wie Nutzen und Mehrwert sind ja schon ein Zugeständnis an vorherrschende Ideologien – Ette dagegen spricht von der Literatur als Lebensmittel, da wir ohne sie nicht leben und überleben können. Der Literaturwissenschaftler verkündet selbstbewusst, man dürfe den Versuch einer Erklärung des Lebens nicht den Lebenswissenschaften überlassen, zumal nicht zuletzt diese Wissenschaften sich für die tödlichen medizinischen „Experimente“ der Nationalsozialisten hergegeben hätten. Aber ganz abgesehen von solch schuldhafter Verstrickung könnten die „Life sciences“ Lebensvorgänge zwar auf der Ebene des Stoffwechsels erklären, während die Literatur laut Ette dazu befähige, zu erleben, zu überleben und zusammen zu leben. Sie mache den Menschen erst im praktischen Sinne lebensfähig. Was einem leseentwöhnten, auf verwertbare Fakten und Informationen getrimmten Publikum als kühne, beinahe häretische Behauptung erscheinen mag, wäre in Zeiten des großen Romans aufgrund der einleuchtenden Selbstverständlichkeit kaum der Notiz wert gewesen. So aber nimmt Ette auf den 350 Seiten seines Buches stets neuen Anlauf, um seine Behauptung vom „Lebensmittel Literatur“ reichlich zu illustrieren – und stützt sich dabei auf eine gewachsene Textfülle von Aristoteles, den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bis zu zeitgenössischen Schriftstellern und Philosophen wie Roland Barthes und Amin Maalouf.
Er zitiert Wilhelm Dilthey („So erschließt uns die Poesie das Verständnis des Lebens“) und die Erkenntnis des Aristoteles, wonach Literatur nicht auf die Darstellung dessen abziele, „wie sich die Dinge ereignet haben, sondern wie sie sich ereignet haben könnten“. Insofern bewege sich Literatur immer zwischen dem Vorgefundenen, dem Erfundenen und dem Erlebten. Das Erfinden öffnet den Raum nicht nur zum Möglichen, sondern auch zum Zukünftigen hin. Dieses Offenhalten und Anbahnen der Zukunft durch die Literatur findet sich bei Ette als immer wiederkehrendes Muster mannigfach ausgesprochen – so wenn er sagt, dass nicht zuletzt im Hinblick auf die künftigen Leser „Literatur die Bahnen zukünftigen Erlebens spielerisch vorweg nimmt“, oder dass – dabei auf Mario Vargas Llosa Bezug nehmend – Literatur „ein anderes Leben entwirft“, das den „Widerstand gegen das Ausgeliefertsein an die Geschichte stärkt“. Die bereits erwähnte Nasenlänge, welche die Literatur der Wissenschaft voraus habe, liege in dieser Kraft der Verschränkung von Fiktion und Realität – man könnte auch sagen, in der Literatur bekommt das Mögliche die Kraft des Wirklichen. Dabei stehe der Roman oder das Gedicht nicht „unter dem Gebot des Zu-Ende-Denkens, sondern des In-Bewegung-Haltens“ – und auch nicht unter dem Zwang der „Grenzziehung gegen andere Wissensformen“. Tatsächlich kann Literatur leisten, wozu andere „Disziplinen“ im wahrsten Sinne nicht das „Zeug haben“, nämlich die Grenzen zwischen geographischen und kulturellen Räumen sowie den Generationen zu überschreiten. „Literatur ist Bewegung“ ruft Ette dem Leser zu, um noch einmal die Bewegungsrichtung seines Buches zu bestimmen: „Literatur kann unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Denksysteme gleichzeitig zu Gehör bringen und miteinander verschränken“. Dieses Zugleich unterschiedlichster Logiken und Identitäten, unter denen Menschen nicht nur leben können, sondern dies zunehmend in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung bereits tun, bildet die Folie aller paradoxalen, keinesfalls immer harmonischen Entwürfe eines Zusammenlebens in Differenz, die Literatur – oft versteckt und hintergründig – dem Leser anbietet. Voraussetzung des Zusammenlebens wie des Lebens ist aber zunächst das Überleben. An eines der ältesten und berühmtesten Beispiele der Erzählkunst als Überlebenskunst erinnert uns Ette gleich zu Anfang: Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Die Prinzessin Sheherazade verschiebt die Zeit, die ihr und anderen jungen Frauen bis zum Liebesakt mit dem Herrscher samt geplanter nachfolgender Tötung verbleiben soll, indem sie Geschichten erzählt. Damit gewinnt sie nicht nur Zeit, sondern das Leben. Erzählkunst als Überlebenskunst – wir müssen also wieder lernen zu erzählen, wenn uns das Leben lieb ist!
Ängstigt uns nicht manchmal der Verlust jener Kunst des Erzählens in der westlichen Welt, da wir spüren, wie sehr unser Überleben an diese Kunst gebunden ist? Er-zählen bedeutet eben nicht ab-zählen, sondern vielleicht „her-zählen“ im Sinne des Ausschöpfens aller verborgenen, fiktionalen, potentiellen und zukünftigen Dimensionen des Erlebens. Werden menschliche Biographien gerade auch in Hinblick ihrer nicht verwirklichten, aber möglich gewesenen Wege erzählt, können festgefahrene Lebenspfade oder ein scheinbarer Stillstand der Zeit erneut in Bewegung geraten. Sie eröffnen einen möglichen, überlebenswichtigen Neuanfang – und wenn dieser sich zunächst „nur“ in zu sich selbst oder anderen gesprochenen Worten ereignet. Eine Erzählung vom Überlebthaben kann zu neuen Formen des Überlebens und schließlich Zusammenlebens führen. Ette hat dafür einen trefflichen Ausdruck gefunden: Literatur suche nach der List, die Last der Vergangenheit in eine Lust auf die Zukunft zu verwandeln.
List, Last und Lust
Tatsächlich würde es zur mühevollen Last werden, die Anzahl jener Beispiele aus den karibischen, südamerikanischen, philippinischen, arabischen, afrikanischen und europäischen Literaturen präzise zu nennen, an denen Ette seinen „Dreiklang“ von List, Last und Lust nach erlebbar machen möchte. Indem wir exemplarisch einige wenige herausgreifen, möchten wir die Lust am Lesen wecken – sowohl des neuen Buches von Ottmar Ette wie auch der von ihm zitierten Bücher. Zwar gelingt der Bogen von der Last über die List zur Lust nicht immer, zuweilen erscheint diese Verbindung etwas konstruiert, weil man den Eindruck gewinnt, hier müsse krampfhaft die einmal benannte Spur gehalten werden. Dennoch: Das vorliegende Buch könnte uns wieder zu Erzählern machen – eine kleine Sensation, wenn sie gelänge!
Die Trias von Last, List und Lust verweist auf eine bedeutsame Methode des Philosophierens, die Ette – listig – erst am Ende des Buches zur Sprache bringt: Gesucht wird in allen Konflikten, Widersprüchen und scheinbar unauflösbaren, mitunter tödlichen Gegensätzen das Dritte, „das die Opposition aufhebt und verstellt, ohne Fusion oder dialektische Aufhebung“. Die Falle des Entweder-Oder gilt es also mithilfe des bisher übersehenen Sowohl- als-Auch oder Weder-Noch zu unterlaufen. Ette erzählt uns von der Falle zwischen Schreiben oder Leben, in die z.B. der spanische Autor Jorge Semprun fast gelaufen wäre, nachdem er die Konzentrationslager in Gurs (Frankreich) und Buchenwald überlebt hatte. Klingt dies nicht paradox, müsste es nicht heißen Schreiben oder Sterben? Semprun habe jedoch irgendwann entdeckt, dass ein nur be-schreiben-des Schreiben der Lager-Greuel ihn in die Falle der Last der Vergangenheit laufen ließ, so dass er auf den Tod hin schrieb: „Das Schreiben des Todes führt aus der Todeserfahrung nicht zum Leben zurück“. Die List gegen die Last habe auch Semprun in der Kunst des Erzählens gefunden, die das Faktische durch die Fiktion ergänzte, um so „aus der Erfahrung des Todes Funken des Lebens zu schlagen“, womit – wie Ette sagt – die statischen Grenzziehungen zwischen Leben und Tod unterlaufen werden. Wie aber gelingt es, „vom Tod in einer dem Leben zugewandten Kunstform zu erzählen“? Die von dem spanisch sprechenden, französisch schreibenden und nach Deutschland deportierten Semprun angewandte „List“ bestehe zunächst in der Verschiebung der Optik: Das Lager Gurs am Rande der Pyrenäen war ursprünglich von den Franzosen für die Inhaftierung spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge und französischer Resistance-Kämpfer gebaut worden, bevor die Nazis Juden aus Frankreich und Deutschland dort inhaftierten. Eine in Gurs gefangene Jüdin spricht in Sempruns Theaterstück „Gurs: eine europäische Tragödie“ den erschütternden Satz: „Ich habe dies geerbt“, womit sie auf die Verfolgung ihrer spanischen Vorfahren seit der Vertreibung der Juden im Jahre 1492 anspielt. Ihr Vater habe dafür gesorgt, dass die Familie überall hin zerstreut werde, „damit wenigstens einer überlebt“. Aber das „Erbe“ der jüdischen Bevölkerung erweise sich schließlich als ein gesamt europäisches. Hier also erscheint blitzartig das europäische Trauma der Deportation – von Spanien bis Russland –, das seinen vorläufig grausigen Tiefpunkt unter der Naziherrschaft über Europa erreichte. Die literarische Wendung dieser europäischen Last verortet Ette in der List des „Theaters im Theater“. In einer Szene von Sempruns Theaterstück werde im Lager Gurs Musik und Theater gespielt – von Spaniern, Franzosen, Deutschen, sprich von Europäern. In Ettes Sicht bringt diese literarische List aus dem europäischen Konzentrationslager die konzentrierte Form des Schmelztiegels einer neuen europäischen Kultur hervor, „deren Schöpfungskraft fraglos in der Erfahrung des univers concentrationnaire wurzelt und jeglichem Totalitarismus…abgeschworen hat.“ Dies kann man nicht en passant in die naiv angehauchte Rubrik eines „Europa ohne Grenzen“ abschieben, die in den 50er Jahren junge Leute zu glühenden Europafans werden ließ – zumeist ohne tiefere Kenntnis der europäischen Kulturen. Vielmehr können durch Sempruns literarische Lebenskunst Europäer lernen, aus der Erfahrung des Todes die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig zu machen – und auch diejenige zwischen Fiktion und Realität, Literatur und Leben. Semprun hätte das nur körperliche Überleben der Lagerhaft auf Dauer nicht wirklich überlebt ohne die List der Erzählung, die aus dem Überleben ein neues Zusammenleben hervor wachsen ließ. Ette wölbt hier einen gigantischen Bogen vom klassischen Orient der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – und das Thema lautet immer noch, wie die Ketten der Gewalt zu sprengen sind.
Die Last der Geschichte:
zwischen „Horizont und Transzendenz“
Auch im Werk der Französin Cecile Wajsbrot, dem sich Ette ausführlich widmet, geht es immer wieder um die Last der Vergangenheit, die Shoah, die Zerstörungen und Verheerungen Europas durch die Naziherrschaft, welche die 1954 geborene Autorin jedoch nicht mehr selbst erlebt hat. Dieser Umstand vermindert jedoch keineswegs die Last der Geschichte, unter der auch die Nachgeborenen bisweilen zu ersticken drohen. Lautet die Alternative, bis zur Erstarrung von der Last erdrückt zu werden oder das Vergangene unter einem vermeintlichen Neuanfang zu vergessen? In ihrem Roman „Caspar-Friedrich-Strasse“ begibt sich Wajsbrot auf die Suche nach dem „Dritten“, um dieser Falle zu entkommen. Ette präsentiert auf wenigen Seiten eine beeindruckend präzise Zusammenfassung dieses Textes.
Der Roman spielt im Berlin unmittelbar nach dem Fall der Mauer, als hektische Großbaumaßnahmen die Spuren der Ruinen zudecken und jene der Vergangenheit verwischen sollen. Aber: „das Vergangene ist nie vergangen“ – die neue Stadt gerät unvermittelt zur Kopie der alten…. Diese nie zu tilgende Anwesenheit der Abwesenheit leuchtet exemplarisch im Titel „Caspar-Friedrich-Strasse“ auf, kennt doch jeder den Maler unter dem Namen Caspar David Friedrich. Wurde der zweite Name vergessen oder weiß die französische Autorin nicht Bescheid? Für Ette symbolisiert der fehlende jüdische Name die Leere nach der Shoah, in der die Zeit still stehe. Die Menschen seien unter der Last der Vergangenheit erstarrt. Die List der Autorin greife – so Ette – dieses Mal nicht zur Literatur, sondern zur Malerei. Caspar David Friedrich hat viele Ruinen und manchmal einen Schiffbruch gemalt: die Last des Vergangenen. Aber er bettet diese Motive immer in Landschaften und Stimmungen ein, die eine „Mischung aus Horizont und Transzendenz“ (Wajsbrot) darstellten – Meer und Himmel, Himmel und Erde verschmelzen oft in ihrer Berührung so weit, dass die Grenze zwischen ihnen transzendiert wird. Findet die Autorin damit das gesuchte Dritte bei dem Maler der Romantik? Ette jedenfalls bemerkt, das diese Mischung aus Horizont und Transzendenz den Stillstand der Zeit überwinde, indem mehr als nur eine einzige Vergangenheit erlebt wird. Die „Ruinen“ des geteilten Berlin, der Nazidiktatur werden plötzlich ins Gespräch mit denen der napoleonischen Kriege und der Aufklärung (den Ereignissen zu Lebzeiten des Malers) und schließlich den Klosterruinen des Mittelalters gebracht. Aus dem Stillstand entstehe erneut die Fähigkeit, lebendig zu sein – statt entweder leblos zu vergessen oder in die Leblosigkeit erdrückt zu werden. Raum und Zeit werde so überschritten, um vor allem ein Zusammenleben über die Grenzen der Generationen hinweg zu ermöglichen.
Im letzten Kapitel von „Zusammenlebenswissen“ präsentiert der Autor ein in mehrfacher Hinsicht exotisch-erotisch-fesselndes Beispiel für die Trias von List, Last und Lust anhand der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar und ihres Romans „Straßburger Nächte“. Wie der Titel schon sagt, siedelt Djebar ihre Geschichte in der französisch-deutschen und heute vor allem europäischen Metropole Straßburg an. Zwischen ihrer nordafrikanischen Heimat, der französischen Kolonialpolitik und der Naziherrschaft der Deutschen als allgegenwärtige „Kulisse“ lässt sie zwei verwickelte Liebesgeschichten sich ereignen. Die Suche nach dem Dritten, das die Last zur Lust wenden könnte, kulminiert in einer Szene, die Ette ausführlich beschreibt. Ein Liebespaar – die Jüdin Eva aus Nordafrika und Hans aus Heidelberg – erlebt das Umschlagen gerade noch genossener Liebeslust in blanken Hass. Als nämlich die Jüdin ihrem Liebhaber verkündet, einen möglichen gemeinsamen Sohn nach jüdischem Gesetz beschneiden zu lassen, gerät dieser außer sich, was bei Eva traumatische Erinnerungen an die Shoah weckt. Die eben noch ins Liebesspiel Versunkenen sind just dabei, sich zu raufen und zu schlagen, als zwischen der Alternative Liebe oder Hass als Drittes die Sprache aufscheint – und zwar als Fremdsprache. Es werden Verse eines irischen Dichters (Samuel Beckett) auf englisch zitiert, das weder die Sprache von Eva noch die von Hans ist. Das Über-setzen schaffe eine Zwischenwelt, die neue, versöhnliche Bewegungen erlaube, so Ette. Wieder rettet Literatur Leben – am Ende dieser „hochliterarisierten Szene“ lauscht Eva sogar den von Hans gemurmelten Versen in deutscher Sprache, was Minuten vorher noch undenkbar gewesen wäre.
Was in der zusammengerafften Form von fünf Sätzen kitschig erscheinen mag, bedarf wohl erneut der Überprüfung anhand des Originals – hier soll lediglich der Appetit auf Erzählen, Sprache, Über-setzen, Überleben und Zusammenleben entlang der Lektüre von Ettes Buch geweckt werden. Vor allem aber, und darum geht es Ette nicht zuletzt, blickt Djebar im Gegensatz zu Semprun und Wajsbrot aus maghrebinischer Sicht auf Europa – eine für die Frage des Zusammenlebens nicht ganz unwichtige Perspektive. Diesem Topos sind viele weitere Seiten in Ettes Buch gewidmet, insbesondere der Blick von der karibischen Inselwelt aus. Sehr konzise begegnet dem Leser dieses Thema jedoch schon im dritten Kapitel von „Zusammenlebenswissen“, das ganz im Zeichen des libanesischen Schriftstellers Amin Maalouf steht.
Ohne festen Wohnsitz
Maalouf lebt im französischen Exil. Aber so möchte er es laut Ette selbst nicht nennen, da dies schon den zweifelhaften Begriff der Heimat und Identitätszuweisung implizierte. Maalouf verstehe sich als Wanderer zwischen den Welten und gehöre damit zu den Schriftstellern ohne festen Wohnsitz, die gerade deswegen so produktiv seien, weil sie jedwedes Schema fest gezimmerter Identitäten (auch der des Europäers) unterliefen. Genau darum geht es Maalouf in seinem fiktiven autobiographischen Romans Leon l’Africain. Der aus Geschichtsbüchern als Johannes Leo Africanus bekannte „Titelheld“ werde als Bewohner einer „Zwischenwelt zwischen Orient und Okzident“ dargestellt, „der ständig im Aufbruch ist“. 1492 aus Andalusien vertrieben, gerät er von Marokko über Kairo, Timbuktu und Mekka (wo er von Christen entführt wird) schließlich nach Rom an den Palast des Papstes. Ette weist auf die Parallelität des Schicksals von Granada, Kairo und Rom hin, die alle drei innerhalb von nur 40 Jahren Eroberung und/oder Plünderung erleiden mussten. Wo also beginnt Europa, wo hört es auf? Ette fasst die verschiedenen Geschichten über Europa zusammen – zur Geschichte der Wanderungen, der Deplatzierungen (Exil), der Kolonisationen, Deportationen, Liquidationen, um nicht nur ein Europa in Bewegung, sondern als Bewegung zu zeigen. Was Europa seit den Kreuzzügen (ein anderes Thema Amin Maaloufs) Anderen angetan hat, hat es in den sich selbst zugefügten Wunden auch am eigenen Leib durchlebt. Damit aber – so erinnert uns Ette gemeinsam mit Maalouf – gerät dieses Europa der Lager, des Exils, der Verbannung und der Eroberung immer wieder in Berührung mit den Kulturen des Orients, Afrikas, Lateinamerikas und Asiens. Wo also hört Europa auf, wo fängt es an? Jedweder Eurozentrismus erleidet hier produktiven Schiffbruch. „Um Europa denken und verstehen zu können, benötigen wir unverzichtbar den Blick von außen, der uns davor bewahrt, in unterschiedlich nationalkulturell bedingte Fixierungen zurückzufallen“, mahnt Ette den Leser des 21. Jahrhunderts. Also auch hier erscheint mit dem Blick von außen das listvolle Dritte, um die Last der Kriege und Diktaturen in eine Lust des Zusammenlebens mit den Anderen, die so sehr Europa und nicht Europa sind wie Europa Orient und nicht Orient, Karibik und nicht Karibik „ist“.
Wer angesichts so vieler Listen des Zusammenlebens über Räume und Zeiten hinweg zwischen Kulturen, Generationen, Liebenden und Hassenden noch nicht genug der Lust verspürt, Ette und den von ihm zitierten Schriftstellern weiter auf die Spur zu kommen, der sei an Ettes umfangreichen „Kommentar“ zu Roland Barthes „Lust am Text“ erinnert. Die Lust am Wort und an der Wortschöpfung weht durch das ganze Buch – so wenn Ette das Wortspiel der Japanerin Yoko Tawada aufgreift, die Übersetzungen als Überseezungen schreibt. Die Literaturen ohne festen Wohnsitz bringen nicht nur Europa in Bewegung, sondern auch die Sprache. Sie zeigen, dass Überleben der anderen Zungen bedarf, um Zusammenleben zu werden. So kann man Ettes Buch auch als ungewöhnliches Kompendium moderner Weltliteraturen lesen, mit dessen Hilfe sich Autoren aus bisher übersehenen Winkeln der Erde entdecken lassen. Nicht nur deswegen wird der Band Zusammenlebenswissen seine ganze Wirkung erst im Laufe der kommenden Generationen entfalten – laut Cecile Wajsbrot ein natürlicher Vorgang. Ihrer Ansicht nach – so Ette – habe die Literatur zwischen den Kriegen auf beiden Seiten des Rheins die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945 vorbereitet und überhaupt ermöglicht. Gemäß seinem Diktum, wonach Literatur die Zukunft anbahne, zitiert Ette Cecile Wajsbrot mit den folgenden Worten: „Gegenüber der Zeit gibt es immer eine Verspätung um eine Generation, ein jeder setzt den Wunsch der Eltern in die Tat um“.
Literatur als Lebensmittel
Ottmar Ettes Buch ZusammenLebensWissen fordert die Life Sciences heraus.