Miteinander der Kulturen
Miteinander der Kulturen: Eine andere Aufklärung
Ein Symposion in Berlin.
Im Rahmen des Berliner Wissenschaftsjahres 2010 fand am 30.Juni ein Symposion zum Thema Miteinander der Kulturen: eine andere Aufklärung statt, das gemeinsam von Spree-Athen e.V. und der Initiative Humboldt-Forum veranstaltet wurde. Es sollten dabei Ansätze zu anderen als nur wissenschaftlichen Formen des Wissens, also sinnlichem, gestischem, ästhetischem und ethischem Wissen in einem Lernen der Kulturen von und miteinander erprobt werden.
Dazu waren sieben außergewöhnliche zeitgenössische Denker aus Asien, Europa und Afrika zusammengekommen, die ihre Beiträge als Ansätze einer Aufklärung der Aufklärung verstanden wissen wollten. Zweifelsohne trug dieses Symposium über den Rahmen des Berliner Wissenschaftsjahres hinaus auch zu einer Begegnung verschiedener Denkstile jenseits der oft zu eng gefassten europäischen Selbstreflexion bei. Dass diese Begegnungen in einer multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts, die zunehmend asiatisch und afrikanisch geprägt sein wird, von eminenter Bedeutung für das friedliche Miteinander der Kulturen sind, bedarf wohl kaum der Erwähnung.
von Frank Hahn
Was selbstverständlich sein sollte, wird zuweilen als außergewöhnlich empfunden, weil es sich eben längst nicht mehr von selbst versteht. Dass sieben Denker aus drei Kontinenten über fast acht Stunden miteinander unaufgeregt sprechen, ohne etwas verkünden zu wollen, sondern einander zuhören und aufeinander antworten, erscheint angesichts einer medialen Reizüberflutung mit unaufhörlichem Geschwätz und dialogisch getarnten Monologen fast als Sensation. Nach ihren jeweiligen kurzen thematischen Beiträgen wurden die Diskutanten vom Gesprächsleiter Rudolf Prinz zur Lippe (Initiative Humboldt-Forum) gebeten, sich auf einen Weg des miteinander Sprechens ohne vorgegebenes Ziel zu begeben. Dies mag gewagt erscheinen, war aber als Experiment gedacht, um den Strom der im Sprechen aufkeimenden Gedanken möglichst frei fließen zu lassen. Dass dies weitgehend gelang, zeigten viele Stimmen aus dem Publikum, die ihren Eindruck des Ganzen so ausdrückten: selten – oder noch nie – habe man ein Gespräch auf anhaltend hohem philosophischen Niveau erlebt, das über acht Stunden weder erlahmte noch langweilig wurde, sondern immerfort neue Sichtweisen und Fragestellungen aufsprießen ließ. Dabei ging es um ostasiatische und europäische Philosophie, Medizin, verschiedene Denkstile, Fragen der Ethik, der Sprache, des Verständnisses von Aufklärung usw. Welche philosophischen Köpfe hatten sich auf dieses "Wagnis" eingelassen? Es waren die Professoren Volker Gerhardt (Berlin), Ryosuke Ohashi (Kyoto/Köln), Henrik Jäger (Trier), Karol Sauerland (Warschau), Jacob Mabe (Berlin), Bettina Schöne-Seifert (Münster) und Rudolf zur Lippe als Gesprächsleiter (Hude/Berlin). Die Vita der einzelnen Teilnehmer ist am Ende dieses Artikels angefügt. Das Ganze ereignete sich an einem den Künsten gewidmeten Ort, dem Berliner Radialsystem V direkt an den Ufern der Spree, an einem heißen Nachmittag im Juni.
Aber es meldeten sich auch ungeduldig Teilnehmer zu Wort, die „ganz konkret“ wissen wollten, wie denn nun das Miteinander- Sprechen zwischen den Kulturen aussehen könne. Die einfache und unverblümte Antwort auf diese Frage lautete: Hört zu, gerade vor Euren Augen und Ohren passiert es doch! Wenn wir jedoch wohl gesonnen den durchaus triftigen Kern der Frage heraus schälten, ließen sich die alten philosophischen Grundfragen „was kann ich wissen?“ oder „was soll ich tun?“ zu der neuen Frage „wie können wir miteinander sprechen?“ umformulieren. Welchen Weg ginge wohl unsere Gesellschaft, wäre dies die erste der philosophischen Fragen? Das Sprechen erscheint, da es jeden Tag geschieht und der Mensch es immerfort ausübt, kaum noch der Frage würdig. Und dennoch: das Sprechen MITEINANDER scheint angesichts fortwährend auftretender Missverständnisse sowie zunehmender narzisstischer und autistischer Tendenzen in der Gesellschaft sich immer schwieriger zu gestalten – und dies wahrhaft nicht nur zwischen den Kulturen, sondern schon innerhalb derselben.
Abgesehen von der praktischen Demonstration der MÖGLICHKEIT des miteinander Sprechens durch das Gespräch selbst, wurde mehrfach im Laufe des Symposiums auf die neue philosophische Grundfrage geantwortet, bevor sie überhaupt gestellt war. Aber wenn die Frage nicht für alle Beteiligten ausdrücklich formuliert nur quasi im Raum „schwebt“, überhört man interessanterweise die Antwort. Wir beginnen hier deswegen mit den Antworten auf eine verspätet gestellte Frage.
Der Sinologe Henrik Jäger, der u.a. durch seine Lesebücher zu alten chinesischen Philosophen wie Menzius und Zhuangzhi bekannt geworden ist, zitierte Zhuangzis Worte über die Sprache:
„Die Fischreuse gibt es wegen der Fische. Hast du den Fisch gefangen, dann vergiss die Reuse. Die Hasenfalle gibt es wegen der Hasen. Hast du den Hasen gefangen, dann vergiss die Falle. Worte gibt es wegen der Bedeutung. Hast du die Bedeutung erlangt, dann vergiss die Worte. Wo finde ich einen Menschen, der die Worte vergessen hat, so dass ich mit ihm Worte wechseln kann?“
Der Philosoph suche also einen Menschen, der die Bedeutung hinter den Worten kennt und die Worte nicht „wörtlich“ nimmt. Mit ihm möchte er gern Worte wechseln. Jäger zeigte an diesem Beispiel aus der chinesischen Philosophie die Differenz zwischen Wort und Bedeutung, zwischen Sprache und Erleben. Wir verstünden einander nicht durch Worte, sondern durch die Resonanz, die in den Worten zum Ausdruck gebracht wird. Worte seien Resonanzkörper, die im Hörer oder Leser das lebendige Erlebnis zum Klingen bringen möchten, von dem sie erzählen. Verweigere sich der Hörer diesen Resonanzen, verstehe er auch die Worte nicht. Das miteinander Sprechen beginne demgemäß mit diesem Verständnis der Differenz von Wort und Bedeutung, die sich nur überbrücken oder schließen ließe, wenn sich der Hörer dem Fluss des Lebens oder des Erlebens Anderer anpasste. Das passende Wort soll immer gesucht werden, aber wir sollten uns bewusst sein, dass es nie ganz passt und seine Bedeutung jenseits des Wortlauts liege.
Im Weiteren sprach Jacob Mabe, gebürtig aus Kamerun, über die Tradition der Oralität oder des mündlichen Philosophierens in Afrika. Er formulierte es so: Im mündlichen Philosophieren könnten wir immer neu beginnen, das Gesagte noch einmal zu sagen und nicht nachzulassen, bis wir die passenden Worte gefunden hätten.
Der polnische Philosoph Karol Sauerland, der sich dem Thema verschiedener Denkstile widmete, sprach in diesem Zusammenhang von „Denkkollektiven“, die sich in ihren Denkstilen voneinander so abgrenzten, dass sich die Frage einer ÜBERSETZUNG zwischen ihnen stelle, selbst wenn sie „derselben Kultur“ angehörten.
Miteinander Sprechen erfordert also die Bereitschaft zur Übersetzung und die Geduld, mit dem Sprechen jeweils neu anzuheben, um Fragen in Antworten und Antworten in Fragen zu übersetzen. Gerade diesen Weg gingen die Gesprächsteilnehmer des Symposions, wodurch der von Ryosuke Ohashi beschriebene – für das ostasiatische Denken typische – „Weg des Wissens“ von allen Zuhörern mit begangen werden konnte.
Asien und Europa: Weg oder System?
Aber beginnen wir von vorn: eingeleitet wurde das Symposium mit dem Beitrag Volker Gerhardts zum Scheitern eines transkulturellen Ansatzes in der frühen Aufklärung. Vorausschickend warnte Gerhardt vor einem reduktionistischen Begriff der Aufklärung, die keineswegs nur als „Sieg der Vernunft“ zu verstehen sei. Zu den vielen Quellen der Aufklärung müsse man auch die Leiblichkeit hinzufügen, und schließlich auch die Einflüsse aus Persien, Ägypten und China auf den europäischen Diskurs einbeziehen. Gerhardt erwähnte beispielhaft Leibnizens Schriften zur Kultur der „Sinesen“, die auf seinen Schüler Christian Wolff nachhaltig gewirkt hätten. Wolff habe als Philosophieprofessor in Halle im Jahre 1721 eine Vorlesung über die praktische Philosophie der Chinesen gehalten, in der er „unvorsichtigerweise“ der konfuzianischen Ethik einen Vorbildcharakter zusprach, aus dem die Europäer etwas lernen könnten.
Kirche und Staat sahen hierin eine Verhöhnung der christlichen Religion, im Namen des preußischen Königs wurde über Wolff die Todesstrafe verhängt, der er sich nur durch die Flucht aus preußischen Landen habe entziehen können. Gerhardt zitierte Wolffs Kernsätze zur konfuzianischen Ethik, wonach der einzelne Mensch (in diesem Fall der Kaiser) durch sein Verhalten ein Exempel geben könne, das als allgemein verbindliche Richtschnur Anerkennung finden könne. Mit dieser „Aufnahme des Exemplarischen in den Bereich der Ethik“ habe Konfuzius – ein Zeitgenosse des Sokrates (!) – der Philosophie eine neue Richtung gewiesen, die sich schließlich noch 2500 Jahre später in Kants großartiger Formulierung spiegele, wonach der Einzelne die Menschheit in seiner Person repräsentieren solle. Indem er diese exemplarische Ethik einer in Prinzipien und Normen verfestigten gegenüberstellte, leitete Gerhardt das Publikum wieder in die Gegenwart hinein: „Nur eine Ethik, die leibliche, soziale und historische Elemente vereinigt und die vor allem immer zuerst vom Einzelnen ausgeht, kann für das menschliche Verhalten beispielgebend werden. Das wäre dann auch ein Ansatz für die Neubestimmung einer transkulturellen Philosophie.“
In diesen wenigen Worten waren nicht nur Fragen nach dem Verhältnis von Ethik, Philosophie und Religion, von Vernunft und Leiblichkeit sowie deren Verständnis in den unterschiedlichen Kulturen aufgeworfen, sondern implizit schwang natürlich die Frage mit, wie es einem Christian Wolff eigentlich heute auf einem deutschen oder europäischen Katheder erginge. Selbstverständlich erfreuen wir uns heute der Freiheit des Wortes, so dass niemand um seinen Kopf fürchten müsste, der in anderen Kulturen ein Vorbild für die praktische Philosophie oder Ethik wahrnähme. Das Berliner Symposium zum Miteinander der Kulturen aber fragte danach, ob und wie wir voneinander lernen könnten – und an diesem Punkt mag doch vorsichtige Skepsis hinsichtlich der Lernbereitschaft vor allem der europäischen Denkwelten erlaubt sein. Henrik Jäger warf dazu einen Zwischenruf in die Runde, indem er an die hierzulande fleißig genährte Plattitüde erinnerte, nach der Chinesen aufgrund ihrer Grammatik nicht logisch denken könnten!
Aber folgen wir zunächst dem Weg des Symposiums, auf dem Ryosuke Ohashi von Volker Gerhardt mehr zum Vorwurf des Atheismus an die Adresse Wolffs wissen wollte. Gerhardt antwortete mit dem Hinweis auf das damalige Urteil der Hallenser Theologen, wonach die Chinesen keine Religion hätten, um dann seinerseits im nächsten Schritt zur Frage überzuleiten, ob Religion notwendig einen Gottesbegriff voraussetze. Ohashi griff dies auf und kreiste um den Begriff Himmel, der im Konfuzianismus nicht nur als transzendent gedacht werde, sondern als etwas Heiliges gelte, als Gesetz, dem sich der Mensch unterwerfen müsse. Erklang hier leiser Widerspruch zu Gerhardts These von der exemplarischen Ethik des Konfuzius? So zu fragen, verfehlte die Richtung des Weges, auf dem Ohashi und das Gespräch bereits unterwegs waren. Auf welch – höchst unterschiedlichen – Wegen Menschen dem Himmel Gehorsam erweisen, hätte zu eingehender Untersuchung ein eigenes Symposium erfordert. Ohashi wollte nun aber auf sein Thema einschwenken: das „Wissen als Weg (jap. Do)“. Dabei benannte er als die womöglich markanteste Differenz zwischen europäischem und asiatischem Philosophieren die zwischen Weg und System. Das System strebe nach Perfektion, nach Voll-endung, wobei sich das Ganze des Systems in jedem einzelnen Teil spiegeln solle. Der Weg kenne kein Ende und somit keine Voll-endung so wie auch die Natur ohne ein Ende zu denken sei. Die fernöstliche Philosophie ließe sich vielleicht am besten als Weg der Harmonie mit der Natur verstehen, und so entwickele sich das Gehen des Weges zur philosophischen, ethischen und religiösen Praxis, in der jeder Schritt – vollendet und zugleich unvollendet wie die Schritte der Natur – zum jeweils nächsten Schritt hinführe. In diesen wenigen Worten enthüllte Ohashi auch seine Antwort auf die Frage nach der Religion: das Gehen des Weges sei Religion ohne Gottesbegriff, wie wir dies im Buddhismus, Taoismus oder Shintoismus erlebten.
Zur „Ehrenrettung“ der europäischen Philosophie erinnerte Gerhardt daran, dass jedes System einer bestimmten Methode (griech. Methodos – Weg) folge, und dass ferner die Peripatetiker der aristotelischen Schule ihren Namen dem Umherwandeln (griech. peripatein) im peripatos (der Wandelhalle) als Ort des Unterrichts verdankten, wobei man sich durchaus ein „Philosophieren im Gehen“ vorstellen könne. Gerhardt schlug deshalb vor, die Grundbegriffe der verschiedenen Kulturen so auszuloten, dass sie fruchtbringend übersetzt werden könnten.
Ohashi ging darauf ein und einen Schritt weiter, indem er zwar das Denken als immer gleichzeitig systematisch und methodisch beschrieb, um jedoch gerade an diesem Punkt den Unterschied zum asiatischen Philosophieren weiter zuzuspitzen: „Beim Gehen muss das Denken losgelassen werden, es muss geradezu vergessen werden, denn es kommt in unserer Philosophie erst als letztes Element.“
Henrik Jäger schritt in seinen Ausführungen zur chinesischen Philosophie diesen Weg weiter voran, indem er zunächst von Konfuzius ausgehend zeigte, dass die Suche nach Wissen und Erkenntnis nicht mit dem Denken beginnt: „Der das Wissen sucht, kommt dem nicht gleich, der es liebt – und der das Wissen liebt kommt dem nicht gleich, der seine Freude daran hat.“ Freude und Liebe als eine Quelle von Wissen und Erkenntnis wahrzunehmen, dafür gibt es auch in der europäischen Philosophie Beispiele, wenn wir nicht zuletzt an Platon, Augustinus oder Leibniz denken. Jäger wollte jedoch aus Perspektive der chinesischen Philosophie noch einmal anhand ausgewählter Metaphern den Unterschied zwischen Weg und System aufzeigen. Wieder spielte dabei der Naturbegriff eine wichtige Rolle. Denn um etwas über die Natur zu wissen, müssen wir uns in unseren (Denk-)bewegungen ihr angleichen, um unser („geistiges“) Resonanzfeld in Schwingungen zu versetzen, die quasi den Frequenzen der Natur auf harmonische Weise entsprächen. Vor diesem Hintergrund folge das chinesische Philosophieren nicht den Spuren exakter, zeitloser Begriffe und logischer Ableitungen, sondern übe sich vielmehr täglich neu im „Schwimmen“, da tatsächlich das Resonanzfeld, in dem wir uns bewegten, jeden Tag ein anderes sei. So erkläre es sich auch, dass Konfuzius auf die gleiche Frage, wenn sie dreimal gestellt wird, drei unterschiedliche Antworten erteile. Die Metapher des „Schwimmens“ als Weg des Philosophierens führte Jäger an einem Beispiel des chinesischen Philosophen Zhuangzi weiter aus. In einem Gespräch zwischen Zhuangzi und Huizi bezweifelt der Letztere, dass Zhuangzi etwas über die Freude der Fische wissen könne, da er ja selbst kein Fisch sei. Im letzten Satz des kleinen Dialogs erwidert Zhuangzi: „Ich weiß es von der Brücke über den Hao-Fluss her.“ Der tiefere Sinn dieser Antwort erschlösse sich – so Jäger -, wenn wir das Spazieren auf der Brücke und das Umherschwimmen im Wasser als einander ähnliche Bewegungen verstünden, die ein gemeinsames Resonanzfeld (des Verstehens) bildeten.
Übersetzung statt Dialog:
ein „Zwischenruf“ zum Thema Denkstile
Der nächste Gesprächsteilnehmer, der Philosoph Karol Sauerland aus Warschau, war selbst überrascht, dass sein Beitrag über den polnischen Arzt und Philosophen Ludwik Fleck kein Umweg, keine Abzweigung und gegenüber dem bisher Gesagten keineswegs abwegig war. Vielmehr gewann Sauerland selbst die für ihn neuartige Einsicht, dass sich in Flecks Werk Denkstile aus dem fernen Osten widerspiegelten. Krankheiten, so Sauerland über Fleck, seien zwar mit Namen versehen worden, sie würden jedoch damit kaum erfasst, da es eigentlich keine Krankheiten, sondern nur kranke Menschen gäbe. In jedem Menschen aber verlaufe die scheinbar selbe Krankheit anders, so dass Diagnose und Therapie der tiefsten Intuition statt der begrifflichen Erkenntnis bedürften. Übertragen auf das Feld der allgemeinen Philosophie könnte uns dies zu der Erkenntnis bringen, dass im Ganzen oft Irrationalität und im Einzelnen Rationalität zu finden wären. Die Naturwissenschaften wie auch die Philosophie müssten daher die Bereitschaft entwickeln, nicht nur den Gegenstand der Erkenntnis „abzutasten“, sondern auch wahrzunehmen, wie dieses Abtasten den Gegenstand verändere. Fleck habe dafür den Leuten das Sehen beibringen wollen oder die Denkbereitschaft, einen anderen Denkstil zu entwickeln, der dem Gegenstand, dem Kranken, dem Ziel des Erkennens sich anzupassen habe. Hier zeigten sich Ähnlichkeiten zu den Themen Resonanzfeld und Weg des gemeinsamen Gehens als Angleichung an den Gegenstand der Erkenntnis. Leider wurde diese erstaunliche Parallele zwischen europäischem und asiatischem Denkstil, wie sie an diesem einen Beispiel erhellte, nicht gebührend aufgegriffen und vertieft, da in der anschließenden Diskussion das Publikum zu einseitig auf medizinische Fragen auswich.
Dennoch provozierte Flecks These von den unterschiedlichen Denkstilen und Denkkollektiven, die sich gegenseitig zunächst nicht verstehen, eine kurze und heftige Debatte über das Verstehen des Anderen. Ohashi und Sauerland warnten beide vor der übereilten Suche nach dem Gemeinsamen zwischen unterschiedlichen Kulturen, Denkstilen oder Menschen. In Zeiten eines inflationierten „Dialogs der Kulturen“ hatte diese Warnung wohltuende Wirkung, denn gerade dieser sog. „Dialog“ verhindert unter dem Schein der hohen Gesinnung kultureller Offenheit zumeist die Öffnung dem Anderen gegenüber. Dabei werden in der oberflächlichen Annahme, dass im Grunde doch alle dasselbe meinten, zumeist jene Differenzen verwischt, aus denen gerade durch die Andersheit des Anderen die fruchtbare Forschung nach dem Besonderen und Einmaligen, das sich nicht einordnen oder unterordnen lässt, entstehen könnte. Beide Philosophen betonten denn auch die Bedeutung, das Andere erst einmal als das Andere und nicht das Ähnliche ernst und wahr zu nehmen. Solange man den Anderen nur rational verstehen wolle, werde man scheitern, denn diese Haltung sei Ausdruck des Systemdenkens, dem wir offenbar auch im 21. Jahrhundert noch unterlägen. Hier wurde auf subtile Weise das Problem des Übersetzens angesprochen, ohne es so zu benennen: Worte, grammatische Weltsichten, Gedanken, Begriffe oder mythische Vorstellungen in die „eigene Sprache“ zu übersetzen, kann nur dann gelingen, wenn sich diese Sprache so moduliert und weitet, dass sie sich dem Anderen öffnet und angleicht und nicht auf dem umgekehrten Weg des krampfhaften Versuchs, das Andere in die Begriffe des eigenen System zu pressen und dies dann als Übersetzung auszugeben. Der erstere Weg ist offenkundig nicht nur der schwierigere, sondern erscheint zunächst dermaßen steil und unwegsam, dass ein Scheitern einzukalkulieren wäre. Aber Ohashi betonte unablässig das Scheitern des Systemdenkens: „Der Versuch des rationalen Verstehens des Anderen führt nur zu Frustrationen…“ Der Gesprächsleiter Rudolf zur Lippe erinnerte an diesem bemerkenswerten Punkt an ein Symposium mit Hans Gadamer zur Hermeneutik, in dem dieser in Anlehnung an Humboldts sprachgeprägte Weltsichten die Frage gestellt habe: wer versteht sich denn selbst?
Afrika:
Mündliches Philosophieren und die Kunst des Schweigens
Bekommen wir eine Ahnung von der freudigen Schwerstarbeit der anderen Aufklärung, die uns aufgegeben ist? Kann der Leser die Irritationen mancher Besucher des Symposiums darüber nachvollziehen, dass mit fortschreitendem Gespräch die Zusammenhänge nicht etwa klarer, sondern eher unübersichtlicher wurden, indem die Fragen zahlreicher und komplexer erschienen als die Antworten? Kommen wir auf die neue philosophische Frage zurück, wie ein Miteinander-Sprechen möglich sei und wenden uns dem einzigen Afrikaner in der Runde zu: Jacob Mabe. Er widmete sich dem Thema des mündlichen Philosophierens in Afrika bzw. in wissenschaftlichen Termini ausgedrückt der „Tradition der Oralität“. Bevor Mabe sich dem Sprechen zuwandte, besprach er das Schweigen: „Das Geheimnis des Lernens ist Schweigen, denn nur wer schweigt, kann auch zuhören.“ Weise Worte an die Adresse der heutigen Unkultur des ständigen Plapperns, das unter dem manischen Heraussprudeln der Worte oft Harthörigkeit nach sich zieht. Zuhören bedeutet die Möglichkeit, sich in den Anderen einhörend sich ihm anzugleichen.
Mabe attackierte scharf die Arroganz der Amerikaner und Europäer, die nur das geschriebene Wort als das vernunftgemäße, überlieferungswürdige und philosophisch tiefgründige akzeptierten. Aber zum einen habe sich offenbar die Vernunft als unzuverlässige Führerin erwiesen, die zwar jedes Moralprinzip und jedes Verbrechen erklären könne, was aber die auf die Vernunft fixierten Europäer nicht vom Stehlen, Ehebrechen usw. hätte abhalten können. Zum anderen lohne der Blick auf die historische Entwicklung: schon die Ägypter hätten seinerzeit die kulturelle Leistung der Griechen gering geschätzt, weil diese keine schriftliche Tradition kannten, wobei noch Platon die Einführung der Schrift als Verlust des Mythos beklagt habe. Nach Auffassung der heutigen Wissenschaft verhindere der Mythos die Emanzipation; Aufklärung helfe also den Mythos zu überwinden. Was aber, so fragte Mabe, hätten wir durch Objektivierung und Vergegenständlichung der Welt verloren? Als erster großer Philosoph sei dieser Frage im Übrigen ein Afrikaner nachgegangen, der jedoch vom griechisch-christlichen Erbe vereinnahmt werde: Aurelius Augustinus.
Bettina Schöne-Seifert schritt mit ihrer Frage an Jacob Mabe den Weg weiter ab, an welchen Orten und unter welchen Umständen das mündliche Philosophieren stattfinde. Hier öffnete Mabe einen überraschend nüchternen Blick auf das sog. „Palaver“, indem er schlicht vermeldete, es würden bestimmte Leute miteinander reden, die es wollten. Wäre dann nicht vieles leichter, wenn es überall auf der Welt so zuginge? Leider müssen manchmal aber Leute miteinander reden, die es nicht wollen – und in diesen überwiegenden Fälle aller Fälle mag nicht nur Mabes Hinweis auf die „afrikanischen Tugenden“ des Schweigens, der Meditation und Inspiration helfen, sondern vor allem der folgende Grundsatz einer auf Mündlichkeit fußenden Tradition: Das Wort bleibe im mündlichen Philosophieren freier, ungebundener, nicht bedroht von schriftlicher Fixierung, der immer etwas von Endgültigkeit anhaftet. „Die Menschen hören sich selbst sprechen, und so können sie sich so häufig wiederholen, bis sie die richtigen Worte und Sätze gefunden haben“, resümierte Mabe, womit wir seinen bereits oben angedeuteten Gedanken korrekt zitieren. Das Sprechen wird somit zum Dao, zum Weg, auf dem jeder Schritt nur ein Versuch ist, der im nächsten Schritt korrigiert werden kann. Wäre das ein Weg zu einer anderen Aufklärung? Damit Mabes Anliegen nicht missverstanden wird, sei schließlich erwähnt, dass er sich seit langem mit der sog. Konvergenztheorie von mündlicher und schriftlicher Tradition beschäftigt.
Stretto: Ethik - Leben - Sprache
Der letzte Beitrag auf dem Symposium führte zum anfänglichen Thema Ethik zurück, wenngleich nicht in historischer Perspektive, sondern aus praktischer medizinischer Sicht, wobei es Bettina Schöne-Seifert trefflich verstand, eine weitere Brücke zum Miteinander der Kulturen zu bauen und zu begehen. Erfrischend lebensnah warf sie die Frage auf, warum wir überhaupt einer Theorie des ethischen Verhaltens bedürften, da wir grundlegende moralische Entscheidungen ohnehin nicht aufgrund komplizierter theoretischer Überlegungen träfen. Vielmehr könne jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand ganz ohne Theorie entscheiden, dass die Quälerei eines Kindes oder ein Betrug ersten Grades Unrecht sei, dem man entgegenzuwirken habe. Ganz anders aber verhalte es sich mit den mannigfachen Differenzierungen, welche der Mediziner oder der Bioethiker hinsichtlich Leben und Tod des Menschen in seine Entscheidungsfindung einbeziehen müsse. Schöne-Seifert sprach hier von „partikularen Ethiken“, die sich aus der gegebenen Situation entwickeln müssten und nannte als Beispiel den Einsatz von „Hightech-Medizin“ am Ende des Lebens. Wie menschenwürdig oder unwürdig, wie therapeutisch sinnvoll oder seelisch grausam bestimmte Maßnahmen der modernen Medizintechnik in dieser Phase seien, ließe sich in der Tat immer nur von Fall zu Fall entscheiden, womit Schöne-Seifert das Thema einer situativen Ethik und der falschen Normierung von Krankheitsbildern und Krankheitsverläufen aufgriff. Schließlich erwähnte sie den gerade in der Medizinethik vorhandenen „interkulturellen Bedarf“, wenn es um die Frage verschiedener Bewusstseinszustände, den Einsatz psycho-aktiver Substanzen, meditativer Techniken und der Praxis des „luziden Träumens“ ginge.
Wenngleich sowohl in diesem letzten Beitrag wie in diesen dazu formulierten Zeilen die Themen quasi nur angetupft werden konnten, so mag man auch hier wieder die intensive Durchdringung der Themenfelder "andere Aufklärung" und "Miteinander der Kulturen" erahnen. Denn wozu philosophieren wir, schreiben Abhandlungen, organisieren Symposien, wenn nicht um des Lebens willen – besser gesagt, um des wahren oder guten Lebens willen? Dieses Leben aber lässt sich mit einer auf den reinen Vernunftbegriff beschränkten Aufklärung weder erfassen noch ertragen. Das Wissen um das wahre Leben entspringt erst aus den mannigfachen Wissensformen, die uns im sinnlichen, gestischen, ästhetischen und ethischen Wissen und Wahrnehmen gegeben wären, wenn wir sie denn als Wissensformen lebendig werden ließen. Diese mannigfachen Formen einer „Aufklärung der Aufklärung“, wie sie Rudolf zur Lippe nennt, erschließen sich auf fabelhafte Weise im zuhörenden Gespräch mit den anderen Kulturen, dem wir angesichts einer grundlegend veränderten Weltlage zu Beginn des 21. Jahrhunderts ohnehin nicht länger ausweichen können – und es schon gar nicht länger mit euro-zentristischen Motiven dominieren können. Das Symposium im Berliner Wissenschaftsjahr hat stattgefunden, ist aber nicht „vorbei“, sondern hat vielfältige Anregungen und Spuren hinterlassen, von denen wir noch hören werden. Die Frage nach den Möglichkeiten des miteinander Sprechens und der Übersetzung mag sich in nächster Zeit als eine der wesentlichen unserer modernen Zivilisation erweisen. Daher sei zum Schluss ein großer christlich-hinduistischer Denker einer transkulturellen Moderne zum Thema Sprache zitiert, nämlich Raymond Panikkar: „Wenn eine Sprache alles sagen könnte, was sie sagen will, so wäre dies das Ende der Welt: Es gäbe nichts mehr zu sagen, und ohne Sprache würde die Welt aufhören zu sein“ (Raimundo Panikkar: Rückkehr zum Mythos, Frankfurt am Main 1985 – S. 12).
Kurze Angaben zu den Gesprächsteinehmern:
Volker Gerhardt
lehrt seit 1992 Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wie im Titel seines Hauptwerks zu Immanuel Kant „Vernunft und Leben" bereits angedeutet, leitet ihn die Frage nach dem Leben bei seinen vielfältigen Forschungen von der Ethik bis zur politischen Philosophie.
Gerhardt ist Vorsitzender der Nietzsche- und Kant-Kommission an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ferner Mitglied im Deutschen Ethikrat sowie Leiter des Humanprojekts und dessen Nachfolge-Projekt „Funktionen des Bewusstseins ebenfalls an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem hat er seit 2007 eine Gastprofessur an der Universität von Wuhan in Hubei, China. Über Kant und Nietzsche hinaus hat er u.a. zu folgenden Themen Bücher veröffentlicht: „Individualität - das Element der Welt" (2000) und „Partizipation - das Prinzip der Politik" (2007).
Ryosuke Ohashi
führt das Anliegen der Philosophie Nishidas und der Kyoto-Schule weiter, Einsichten in die Überschneidung des europäischen und ostasiatischen Philosophierens zu gewinnen.
1973 promovierte er in München mit einer Arbeit über Schelling und Heidegger, und 1983 habilitierte er sich als erster Japaner an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Von 1985 bis 2003 lehrte er an derTechnischen Universität Kyoto, von 2003 bis 2007 an der Universität Osaka, z.Zt. hat er einen Lehrauftrag an Universität Köln. Ohashi ist im Beirat der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie und war deren Vizepräsident. Vor kurzem ist sein Buch über „Hegels Phänomenologie als Sinnenlehre" erschienen.
Henrik Jäger
hat in Freiburg, Taipeh und München Sinologie, Philosophie und Japanologie studiert.
Nach einer Promotion über einen buddhistischen Kommentar zum Daodejing des Laozi bei an der Ludwig-Maximilian-Universität München war er 10 Jahre Hochschulassistent in Trier und Taipeh. Seit 2004 arbeitete er als Autor für den Ammann-Verlag, Zürich, an den ersten beiden Bänden seiner philosophischen Lesebücher („Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße", „Den Menschen gerecht"), in denen bedeutende chinesische Denker für aktuelle Fragestellungen erschlossen und zugänglich gemacht werden. Vor kurzem ist sein Menzius-Lesebuch erschienen.
Karol Sauerland
ist ein polnischer Germanist und Philosoph. 1975 habilitierte er an der Universität Warschau mit einer Arbeit zu Adornos Ästhetik.
Während seiner Lehrtätigkeit am Lehrstuhl für Germanistik an der Kopernikus-Universität Torun (Thorn) trat er der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc bei. Bis 2005 leitete er die Abteilung für Literaturwissenschaften an der Universität Warschau. Zahlreiche Gastprofessuren führten ihn an das Wissenschaftskolleg Berlin, an die hiesige Freie Universität sowie viele andere europäische Universitäten. 2008 nahm er die Franz-Rosenzweig-Gastprofessur an der Universität Kassel wahr. Neben Publikationen zu literarischen und philosophischen Themen (u.a. „Das Subversive in der Literatur und die Literatur als das Subversive") galt sein Wirken immer auch dem Verhältnis von Polen und Juden - 2004 erschien das Buch „Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen."
Jacob Mabe,
geboren in Kamerun, lehrt seit 2004 interkulturelle Philosophie an der Technischen Universität Berlin.
Die Bedeutung des afrikanischen Philosophierens für Europa hat er sowohl in seinen historischen Forschungen - z.B. über den Denker aus der Zeit der Aufklärung Anton Wilhelm Amo - als auch in seinem Werk „Mündliches und schriftliches Philosophieren in Afrika" herausgearbeitet. Mabe ist Herausgeber des „Afrika-Lexikons, " Präsident der Anton-Wilhelm-Amo Gesellschaft Berlin sowie der Deutschen Gesellschaft für französisch- sprachige Philosophie.
Bettina Schöne-Seifert
studierte Humanmedizin und bekam ihre ärztliche Approbation als Assistenzärztin an der Kinderklinik Göttingen.
Von 1983 bis 1990 studierte sie Medzinethik und Philosophie an der Georgetown University Washington sowie den Universitäten Los Angeles und Göttingen. Im Jahre 2000 erfolgte ihre Habilitation an der Philosophischen Fakultät in Göttingen. Seit 2003 ist Schöne-Seifert Inhaberin des Lehrstuhls für „Ethik in der Medizin" an der Universität Münster. Sie ist Mitglied im Deutschen Ethikrat und hat vor allem zu medizinethischen Problemen publiziert, so u.a. „Grundlagen der Medizinethik" (2007).
Rudolf zur Lippe
hat in Geschichte und Ökonomie promoviert und sich bei Adorno für Sozialphilosophie und Ästhetik habilitiert.
Zuletzt war er Professor für die „Philosophie der Lebensformen" an der Universität Witten. Zur Lippe ist zugleich Künstler und Ausstellungsmacher sowie Initiator der „Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit", in denen Gastprofessoren aus aller Welt als „Stimmen der Kulturen" wirkten. Die dort gewonnenen Erfahrungen und geknüpften Beziehungen hat er in seiner Privatsiftung „Forum der Kulturen" fortsetzen können und diese ebenfalls der Initiative Humboldt-Forum zur Verfügung gestellt, die er mit gegründet hat. Von Rudolf zur Lippe ist erschienen: „Sinnenbewusstsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik" (2000) und „Neue Betrachtungen zur Wirklichkeit. Wahnsystem Realität" (1997)
Miteinander der Kulturen:
Miteinander der Kulturen: Eine andere Aufklärung
Ein Symposion in Berlin.