Politiken der Gastfreundschaft

Dr. Rachid Boutayeb
Dr. Rachid Boutayeb

Politiken der Gastfreundschaft
von Dr. Rachid Boutayeb

Berlin, im Oktober 2015

Am 13.November 2014 fand ein Gespräch zum Thema " Die (Gast)freundschaft und ihre Stimme(n) - Ethik und Sprache bei Emmanuel Levinas" statt. Gesprächspartner waren Silvia Richter und Rachid Boutayeb.

Warum Gastfreundschaft? Ist das überhaupt gastfreundlich, das Dire der Gastfreundschaft in einer philosophischen Sprache, die oft ungastfreundlich ist und bleibt, zu sprechen? War die Philosophie jemals gastfreundlich?! Das autrement que penser(anders als Denken) der Gastfreundschaft geht vor allem von einer Dekonstruktion der Demokratie und der Staatsbürgerlichkeit als Identität aus. Nach Derrida wird die Gastfreundschaft nicht als ein Bereich der Ethik angesehen, sondern als die Ethik selbst. Derrida unterscheidet von einer bedingten Gastfreundschaft die der Autorität, der Politik, und wenn wir Politik sagen, meinen wir gleichzeitig Vernunft und Souveränität, die durch Gesetze, Vorbedingungen, ihre Gäste zu selektieren, versucht. Die Selektion; ist das nicht die Idee des Politischen schlechthin?! Es handelt sich um eine Gastfreundschaft oder eher um eine Politik, die das andere nicht wie „er ist“ sondern nur wie er „sein soll“ akzeptiert. Im Gegensatz zur Arbeit einer assimilierenden Vernunft, spricht Derrida von einer Gastfreundschaft, die jenseits der bestimmten und bestimmenden Regeln der Politik stattfindet, von einer unbedingten (inconditionelle). Gastfreundschaft ist der Versuch, der Versuchung Prokrustes‘ zu widerstehen. Der andere kommt, ohne Warnung, er ist derjenige, der wählt, der mich auswählt und die selektive Logik der Souveränität in Frage stellt. In einer Levinas‘schen Sprache schreibt Derrida: „Die Gastfreundschaft ist unendlich oder sie ist nicht", (Zitatende), jenseits jeder Form der Indentitocratie, sprich der Zugehörigkeit. Eine Begegnung, eine Erfahrung, nicht im Sinne Husserls, ein Ausbruch aus sich selbst. "Wir begegnen dem Anderen, wir konstituieren ihn nicht" sagt Sartre in l‘etre et le neant", er sagte das auch, unbewusst, gegen seine eigene Philosophie, die unaufhörlich versucht, den anderen innerhalb und ausgehend vom „Cogito“ zu denken - einem Cogito, das die „Freiheit“ bedeutet, mit einem Blick den Anderen zu verdinglichen, zu entmachten, in die Totalität des Selben einzuholen zu versuchen. Meine Freiheit aber, sagt Levinas, hat nicht das letzte Wort. Und das Subjekt, falls es überhaupt möglich wäre, über ein Subjekt der Gastfreundschaft zu sprechen, ist ein enteignetes (exproprié) und vertriebenes (delogé), in einem Wort: Ohne- Identität. Levinas wandelt auf den Spuren Pascals, der schrieb: „Ein Platz an der Sonne, ist das nicht der Anfang und das Bild der Usurpation der ganzen Erde?".

Je ne m´appartiens pas!


Ich sage ja zu einer Kritik, einer Subversion (an) der un-gastfreundlichen politischen Gastfreundschaft, welche die Fremdheit des Anderen zu domestizieren versucht. Wir sind in diesem Kontext eingeladen, eine Säkularisierung der Säkularisierung einzuführen. Ein jenseits jener Vernunft – Identität. Unabdingbar ist diese Säkularisierung gegen die eines sektiererischen und selektiven Säkularismus, der nicht aufhört zu verbieten und zu vertreiben, was er nicht zur Konversion bringen kann. Wir sind mit einer binären Logik konfrontiert, die einerseits in der Säkularisierung das Grundprinzip einer kollektiven politischen und kulturellen Identität sieht, und die andererseits in ihrem demagogischen Delirium vergisst, dass das Gesetz gemacht ist, um den Menschen zu dienen und nicht damit diese ihm dienen – eine wichtige Unterscheidung, wie uns Rosenzweig in seinem „Stern“ zeigt. Aber was sagen wir über diese unbedingte Gastfreundschaft, über die Gäste, die die Gastfreundschaft missbrauchen? Ihre „Unmöglichkeit“ nicht respektieren, und die nicht bereit sind, die Logik der Politik, die der Zugehörigkeit, die der totalen Mitgliedschaft zu verlassen? Sind sie noch Fremde, Gäste, Unerwartete, Unbedingte, Unendliche? Das Unberechenbare, wovon Derrida spricht, diese Öffnung auf das Unberechenbare der unbedingten Gastfreundschaft, in der Sprache Levinas‘ „Ce bonjour qui precede le cogito“ (dt. dieser Gruß, der vor dem Akt des Denkens kommt), sagt nichts, höchstens jenseits jeder Form des Sagen-wollens. Unabdingbar in diesem Kontext ist es, ein Jenseits dieser binären Logik der Bedingtheit und Unbedingtheit zu versuchen - und hier spreche ich für eine dialogische Gastfreundschaft, wo der Dialog den Knoten einer kritischen Solidarität repräsentiert, der Ja sagt, ein unbedingtes Ja zur Fremdheit des Anderen, jener Fremdheit aber, die das Fremde in sich respektiert, die sich selbst nicht gehört. (Je ne m‘ appartiens pas, sagt Gabriel Marcel, dt: ich gehöre mir selbst nicht) Die Gastfreundschaft ist die Gabe der Begegnung, einer Begegnung, die sich nicht auf Normen und Regeln einer totalen Sittlichkeit reduzieren lässt, welche ebenso eine geteilte Verantwortung besagt. Sie kommt nicht ausschließlich vom Anderen und ist nicht das Werk einer Politik des Subjekts, die die Welt im Sinne Husserls konstituiert und mit Sinn ausstattet, und somit ihre Fremdheit zu domestizieren versucht. In einer Sprache, die mehr als derridianisch ist, ist die Gastfreundschaft ein „Jenseits jeder Entscheidung“: einer Entscheidung für Politik und Macht, doppelt „un-möglich“.

Jenseits der Freiheit


Die ursprüngliche und radikale Auffassung von der Gastfreundschaft, wie sie Levinas vertritt, und die ihre Identifizierung mit der Selbstheit als mit ihrem Zuhause-sein ablehnt, markiert eine Enteignung des Subjekts; ein Empfang, der unendlich anders bleibt, da das Subjekt der Gastfreundschaft zur gleichen Zeit, so Derrida, empfangen wird von dem, was er empfängt. Ein Jenseits der Freiheit… In der Sprache Levinas‘ heißt „den Anderen zu empfangen“ meine Freiheit in Frage zu stellen. Diese „Schwäche“ des Subjekts, diese geteilte Subjektivität, widerlegt zweifelsohne die Logik des Selben und des Exemplars in der modernen Philosophie, wie sie in den Arbeiten Husserls, Heideggers oder Sartres zu Wort kommt, jene Logik, die ich vor allem als in Besitz nehmen verstehe. Schon Husserls Vokabular, das sich nach Fink nicht von der Sprache der Metaphysik befreit hat, verrät die Egolatrie jeder Philosophie, die den Anderen in der Welt des Ich zu konstituieren sucht. Nur in mir und ausgehend von mir- ich, das meditierende Ego, das die Welt trägt und mit Sinn ausstattet- entsteht der Sinn des Anderen; nur in meiner in sich geschlossenen Monade.

Ohne-Identität


„Im Erleben des Verlustes, so Heidegger in Sein und Zeit, wird jedoch nicht der Seinsverlust als solcher zugänglich, den der Sterbende erleidet. Wir erfahren nicht im genuinen Sinne das Sterben der Anderen, sondern sind höchstens immer nur dabei“. Der Andere bedroht sogar das eigentliche Seinkönnen und verbirgt den eigentlichen Tod. Tod und Einsamkeit sind einerlei. Vor dem Tod bin ich als Dasein immer allein, auf mein eigenstes Seinkönnen verwiesen. Heidegger spricht über die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Eigenste, eigen, Eigentum, Eigenheit, Eigentlichkeit; das sind alles Namen, die zum selben Wortstamm »eigen« gehören. Dieses Adjektiv aus dem 8. Jahrhundert bedeutet: besitzen, beherrschen, zu eigen haben. Nur durch seine eigene Herrschaft über Leben und Tod kann das Dasein Selbstsein werden. Das Unbezügliche verrät die egologische Struktur des Seins zum Tode. Nur einsam stirbt das Dasein. Nur durch seinen einsamen, bzw. eigenen, unbezüglichen und unüberholbaren Tod, ist das Dasein eigentlich. Ausschließlich jenseits der Anderen bzw. des Lebens ist der Tod eigentlich. Eine Einsamkeit, die uns an Nietzsche erinnert, an jenen Heroismus, der sich weder für das blutrünstige Wort der Möglichkeiten noch der Zahl entschieden hat. Aber auch die Zahlen haben ihre Worte, erfinden sich ihre christlich-jüdische Genealogie und grenzen sich vom Fremden ab. Die Welt wird erst entzaubert, wenn sie sich vom Identitätsprinzip befreit. Die Macht des Wortes, die der Genealogie, des Eigennamens lebt in der rationalen Kalkulation fort. Ach die Statistiken einer Monodemokratie haben ihre Worte. Die Logik, seine Zeit in sich zu überwinden, besagt vor allem, dass man nicht bereit ist, die Zeit mit den Anderen zu teilen. Und hier liegt die Gemeinsamkeit zwischen Nietzsche, dem Philosophen der Selbstüberwindung, und Heideggers und seinem Jargon der Eigentlichkeit. Unüberholbar ist der Tod im Heideggerischen Sinne, weil Heidegger diesen Tod nicht als Beziehung zum Anderen versteht. Der Andere, das Jenseits des eigenen Todes, bleibt für ihn reine Spekulation. Der Tod ist ein heroisches Können des Ich; der Tod wie das Leben. Das Antlitz hingegen (erlauben Sie mir diesen Neologismus) "wortet" nicht, es spricht, indem es meine eigene Freiheit in Frage stellt. Eine Sprache, die das Subjekt erst ausmacht und eine Zeit, die nie meine sein wird. Ohne-Identität: Ich habe nur ein Land, und das ist nicht meins !

Vita:


Rachid Boutayeb,
geboren in Marokko, studierte Arabistik und Islamwissenschaften in Rabat sowie Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaften in Marburg. Er promovierte in Philosophie mit einer Arbeit über Emmanuel Levinas.


Politiken der Gastfreundschaft

von Dr. Rachid Boutayeb
Berlin, im Oktober 2015

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