Reflexe und Reflexionen

Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza: Empathie für beide Seiten?
Reflexe und Reflexionen im Haus der Berliner Festspiele.
von Frank Hahn

Inmitten einer erregten und stark polarisierten Debatte hierzulande, die zum Krieg im Nahen Osten geführt wird, war es ein mutiges und bemerkenswertes Unterfangen der Berliner Festspiele, eine Tagung zu dieser Thematik zu organisieren. Unter dem Titel „Reflexe und Reflexionen“ kamen zwischen dem 13. und 16. Juni ganz unterschiedliche Sprecher:innen aus Israel, Palästina und Deutschland zusammen. So viel sei vorweg gesagt: Es wurde weder gebrüllt noch gecancelt. Man hat einander zugehört und sich bemüht, sich in den anderen einzufühlen. Eine Kostbarkeit in diesen Tagen.

Die Tagung wurde vom Anne-Frank-Zentrum und der Jungen-Islam-Konferenz mit organisiert – sowie kuratiert vom Historiker Meron Mendel und seiner Frau Saba-Nur Cheema. Beide sprachen zur Eröffnung ein paar Worte, die den Ton setzten. Es ginge darum, die hoch erhitzte und polarisierte Debatte in Deutschland als das wahrzunehmen, was sie sei, nämlich eine Debatte um die eigene Identität. Der Konflikt im Nahen Osten sei lediglich Projektionsfläche, um sich der eigenen Position zu vergewissern, indem man für die scheinbar moralisch gute Seite in diesem Konflikt Partei ergreift. Den Menschen in Israel und Palästina werde damit nicht geholfen, das sei offenbar auch nicht das Anliegen der hierzulande heftig Streitenden. Und damit war Mendel beim Thema Reflexe: der erste Reflex sei in seiner Wahrnehmung gewesen, möglichst nicht über das Massaker zu sprechen, welches die Hamas am 7.Oktober angerichtet hatte. Als er seine Kinder zwei Tage nach dem Terrorakt in die Kita gebracht habe, so Mendel, seien die Menschen ihm ausgewichen, niemand habe ihm Mitgefühl gezeigt oder nur nach seinem Befinden gefragt. Er habe sich verlassen gefühlt. Der zweite Reflex seien dann die Jubelfeiern arabischer Jugendlicher auf den Straßen Berlins und anderer Städte gewesen.
Bevor der Raum für Reflexionen sich öffnete, erinnerte daher Meron Mendel noch an zwei erschütternde Einzelschicksale des 7.Oktober, die exemplarisch für den Horror und den Schmerz stehen, der mit diesem Datum auf immer verbunden bleiben wird. Da ist der 74 -jährige Shaul Lewy, der jedes Jahr beim Hamburger Marathon Ironman mitgelaufen ist, dieses Jahr jedoch fehlte. Er ist der Großvater jener jungen Frau, die man am ersten Tag des Massakerrs durch die Hamas in den Fernsehbildern gesehen hat, wie sie mit blutiger Hose in einen Van gestoßen wird. Und da ist der arabische Bürgermeister eines Dorfes in Israel, der sich seit Jahren um ein friedliches Zusammenleben zwischen jüdischen und arabischen Israelis verdient gemacht hat. Er war als Sanitäter auf dem Nova-Festival, hat sich noch um Verletzte gekümmert, bevor er von der Hamas getötet wurde. Es war gut, am Anfang den Schmerz zu benennen und ihn spüren zu können, der die Wirklichkeit hinter all den medialen und sonstigen Diskursen seit dem 7.Okober ausmacht. Es war gut, denn diese Einstimmung hat den Ton der Tagung möglich gemacht: zurückhaltend, einfühlsam, traurig, ratlos und doch auch zuversichtlich, dass es möglich sei, miteinander zu sprechen.
Nun also Reflexionen statt Reflexe? Wenn man die Tagung resümieren möchte, dann ragen zwei Themenfelder heraus, die in unterschiedlichen Nuancen immer wieder zur Sprache kamen: die Beobachtung mangelnder oder gar fehlender Empathie für die Leid der Menschen auf beiden Seiten - und der unterschiedliche Umgang mit dem Konflikt auf Seiten der direkt Betroffenen und den meist auf den Zuschauerbänken platzierten Menschen in Deutschland, die nicht familiär in den Konflikt involviert sind.

"Less false clarity, more honesty!"


Am ersten Abend gab es zwei Eröffnungsreden. Eine hielt die bekannte israelisch-französische Soziologin Eva Illouz, die zweite der deutsch-palästinensische Publizist Yassin Musharbash. Beider Reden waren ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die unsäglichen Vereinfachungen, welche die öffentlichen Debatten zum Thema Nahost prägen. Eva Illouz wandte sich zunächst gegen die in akademischen Kreisen zur Mode gewordene Dämonisierung des Zionismus als ausschließlich kolonialistischem Projekt. In erster Linie, so Illouz, sei der Zionismus ein Projekt zur Selbst-Bestimmung gewesen – wobei es zweifellos Verstrickungen mit den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich gegeben habe. Zugleich betonte sie die Rolle des Großmuftis von Jerusalem in der Genese des Konflikts, einem Bewunderer Hitlers und einer Schlüsselfigur in der Verbreitung eines bis dato nicht existenten muslimischen Anti-Semitismus. Die Geschichte sei also nicht entlang der Einbahnstraße eines simplen Plots abgelaufen, sondern müsse in der Vielschichtigkeit ihrer Facetten gesehen werden, so Illouz. Yassin Musharbash begann seine Rede sehr persönlich: „Ich hatte gezögert, überhaupt diese Rede zu halten, denn ich hatte Angst davor, nichts sagen zu können oder nur das Falsche. Dann wurde mir klar, dass ich überhaupt keine Antworten anzubieten habe, denn in diesem Moment überwiegen die Fragen“. Er hat sich dann entschlossen, diese Unsicherheit zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen zu machen, sie nicht zu verbergen, sondern von ihr aus zu sprechen – und so konnte er Sätze wie diese formulieren: „Es steht mir zu, mir gegebenenfalls selbst zu widersprechen, und vor allem steht mir das Nicht-Wissen zu.“ Solch ein Statement zeugt inmitten der Dauerschleife von Bekenntniszwang und Empörung über falsche Positionierungen von einer nicht häufig zu beobachtenden Größe. Musharbash gab seinem Wunsch Ausdruck, dass eine solche Grundhaltung des Nicht-Wissens auf Seiten der Politik und auch der Medien Eingang finden möge. Dadurch könnten wir die Debatte weniger brutal und schmerzhaft führen. Sein Appell an sich selbst und an die Öffentlichkeit lautete dementsprechend: less false clarity, more honesty! Und so ging er mit den Offiziellen des Landes, mit Ministern und anderen ins Gericht, die stereotyp und voller Angst reagierten und durch Moralisieren, Bewertungen, Einseitigkeit und Verbote die Situation noch unerträglicher machten. Cancel culture sei die falsche Antwort auf eine komplexe Situation. Es ginge vielmehr darum, Widersprüchlichkeiten auszuhalten, auch in sich selbst: so sei er selbst einerseits gegen den Krieg, zugleich aber halte er das Bedürfnis nach Sicherheit in Israel für legitim, er leide mit den Geiseln genauso wie mit den Menschen in Gaza. Dass die Menschen vor Ort das Leid der anderen Seite nicht nachempfinden könnten, sei angesichts der aktuellen Brutalität des Krieges und des Terrors kein Wunder, es sei keine Zeit für Empathie. Doch was hindert uns hierzulande, das Leid auf beiden Seiten spüren zu können? Warum könne man nicht mehr als eine Wahrheit akzeptieren? Stattdessen gebe es zu viel Lärm in der hiesigen Debatte – am wichtigsten sei wohl oft das, was man nicht hört. Sein Appell lautete denn auch: nicht jede Information aus den Medien sollte sofort in ein scheinbar geeignetes Argument für das sich unermüdlich drehende Karussell des Schlagabtauschs umgemünzt werden. Wäre es nicht ein Ausweis von Reife – und auch Empathie – erst einmal sich von dem Geschehen berühren zu lassen statt sofort zwanghaft zu reagieren und in den Kampfmodus zu schalten?

  • Eva Illouz: Panel Europäische Perspektiven auf den Israel-Palästina-Konflikt © Ali Ghandtschi
  • Yassin Musharbash: Panel Europäische Perspektiven auf den Israel-Palästina-Konflikt © Ali Ghandtschi

Grenzen von Diskurs und Analyse


In den folgenden Tagen wurden diese Themen auf diversen Podien weiter vertieft. Dabei ging es ein weiteres Mal um die Frage, weshalb gerade dieser Konflikt die Gemüter in Deutschland so erregt wie kein anderer. Die wenig überraschende Antwort war natürlich, dass auch die Deutschen traumatisiert sind, wenn sie als Nachfahren der Täter Wege suchen, sich der geschichtlichen Verantwortung auf besondere Weise zu stellen oder sich von ihr entlasten zu wollen. Ein anderes Panel schaute zurück in die Traumata der Shoah und der Nakba, ohne deren Nachwirkungen nicht zu verstehen sei, weshalb dieser Konflikt so geprägt ist von Vernichtungsängsten und Wunsch nach Auslöschung der anderen Seite. All diese Themen zu beleuchten, ist verdienstvoll, es gab jedoch wenig neue Erkenntnisse, wenngleich es wohltuend war, dass jeweils Perspektiven aus israelischer wie auch aus palästinensischer Sicht Raum bekamen. Und doch waren es letztlich freundlich und aufmerksam geführte Podiumsgespräche, die Beobachtungen und Analysen vortrugen, klug und nachdenklich, doch Diskurs und Debatte helfen nur bedingt beim Umgang mit Schmerz und Traumata. Vermutlich waren sich die Veranstalter dessen auch bewusst, denn bei den Podien gab es kaum Gelegenheit für das Publikum, sich zu beteiligen. Und so wirkten die Gespräche auf der Bühne eher kontrolliert, geführt unter Menschen, die sich nicht wehtun würden. Das darf natürlich so sein, und es hatte seinen eigenen Wert, doch so blieb häufig ungesagt, was die Beteiligten wirklich im Inneren bewegt. Dies kam einmal zum Ausdruck, als Meron Mendel von seinem Gefühl der Verlassenheit und des Schmerzes sprach, nachdem er den offenen Brief von 200 Professoren gegen die Räumung des Pro-Palästina-Camps an der Freien Universität gelesen habe. Auch seine deutsch-palästinensische Gesprächspartnerin Alena Jabarine benannte ein Gefühl: die Angst in Deutschland als Palästinenserin überhaupt zu sprechen, und die Wut, sich hierzulande wie „weggewischt“ zu fühlen. Wie umzugehen sei mit diesen Gefühlen, inwieweit wir darüber uns annähern oder eher voneinander entfernen, all dies wären nicht nur wichtige Fragen, sondern sie wären es wert, jenseits von Diskurs und Analyse, die ja immer auch Distanz schaffen, dialogisch experimentell in dafür geeigneten Erfahrungsräumen erforscht zu werden.

Überwindung des Misstrauens und Schweigens:

Beispiele aus Israel

Dass dies woanders geschieht, dafür haben drei Menschen aus Israel in einem langen Panel Zeugnis abgelegt. Die Re-traumatisierung beider Seiten des Konflikts habe nach dem 7. Oktober und dem folgenden Krieg in eine Spirale der gegenseitigen Entmenschlichung geführt, konnte man in diesem Panel hören. Schockstarre und Schweigen seien selbst in den geschützten Räumen in Israel, die sich für eine Zusammenarbeit zwischen jüdisch-israelischen und arabisch- oder muslimisch- israelischen Menschen einsetzen, zunächst vorherrschend gewesen. Wie der Weg von dort aus zu einem neuen Miteinander-Sprechen begonnen hat, davon haben auf sehr berührende Weise die drei israelischen Sprecher:innen aus ihren jeweiligem Umfeld Beispiele gegeben: Die Leiterin einer jüdisch-arabischen Grundschule in Beer-Sheva, der Leiter einer jüdisch-arabischen Kunsthochschule in Jerusalem und der palästinensische Vorsitzende von Givat Haviva, einer Kibbuzbewegung, die sich um Aussöhnung und Dialog bemüht. Es würde zu weit gehen, all die wertvollen Beiträge dieser Menschen im einzelnen zu zitieren. Es seien exemplarisch daher folgende Statements herausgegriffen.

  • In der besagten Grundschule musste nach dem 7.Oktober der Unterricht für einige Zeit eingestellt werden, da die Mauer des Schweigens und der Schockstarre zunächst unüberwindlich schien. Hier ging es jedoch nicht um eine schwierige „Debatte“, sondern hier war die seit Jahren mühsam erarbeitete Basis des Zusammenlebens kollabiert, und gleichzeitig war allen bewusst, dass sie aufeinander angewiesen sein werden und dass es keine Alternative zu einem friedlichen Zusammenleben gibt. Und so habe man sich Schritt für Schritt, wie die Schulleiterin Avital Benshalom berichtete, aus dem Schweigen heraus bewegt, zunächst durch anonyme Zettel unter dem Motto „Ask me anything“, über die man mit der anderen Seite langsam wieder ins Gespräch gekommen sei. Man sei jetzt, acht Monate später, zwar noch nicht wieder auf der vorherigen Höhe des Zusammenlebens, aber man bewege sich Schritt für Schritt aufeinander zu.
  • Der Vorsitzende von Givat Haviva, Mohammad Darawshe sprach von den politischen Versäumnissen nach dem Scheitern des Oslo-Friedensabkommens der 1990er Jahre. Vor allem die sogenannten Abraham Accords (dem Bemühen Israels um Partnerschaften mit arabischen Ländern) sah er sehr kritisch, da diese Verhandlungen die ungelöste Frage eines palästinensischen Staates umgangen hätten. Wichtig aber war, dass er zum Thema „mutual interest“ ein wichtiges Beispiel erwähnte: 30 Prozent des medizinischen Personals in Israel seien Palästinenser. Und der medizinische Sektor funktioniere, die Arbeit an Kranken und Hilfsbedürftigen verbinde Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger beider Seiten miteinander. Das sei so weit gegangen, dass selbst nach dem 7.Oktober die Zusammenarbeit nicht gestört gewesen sei.
  • Der Dozent der Kunsthochschule, Shaul Setter, führte einen wichtigen Punkt an, der noch einmal an das von Musharbash am Anfang erwähnte Feld der Unsicherheit anknüpfte. Statt über politische Lösungen und Strategien zu streiten (was ohnehin an anderer Stelle verhandelt werde), sei es jetzt elementar wichtig, den Konflikt und die Spannung emotional halten zu können, denn dieser Zustand sei die Wirklichkeit, von der auszugehen sei. Er habe ein kritisches Laboratorium an der Kunsthochschule aufgebaut, in dem Studierende beider Seiten die emotionale Dynamik der gegenwärtigen Situation gemeinsam erforschten. In diesem Lab dürften Ängste, Unsicherheit, Wut, Schmerz und auch die Schwäche der militärischen Stärke erlebt werden. Ihm ginge es vor allem darum, den Blick einmal nach innen zu richten, auf den internen Krieg, der in jedem einzelnen ausgetragen werde. Er sprach denn auch von seinem persönlichen internen Konflikt als jemand, der zwar einerseits gegen den Krieg sei, gleichzeitig aber die existenzielle Bedrohung Israels spüre. Diese innere Zerrissenheit möchte er wahrnehmen und einen Weg des Umgangs damit finden, die Anerkennung der zwei Seiten in sich selbst könne helfen, auch im Außen beiden Seiten Anerkennung zu geben.


Wie gut täte es uns hierzulande, solche geduldige und schmerzhafte Introspektion zu wagen, um aus den Einseitigkeiten und Simplifizierungen heraus zu finden. Es könnte helfen, den öffentlichen Ritualen der Bekenntniszwänge zu entkommen, die im Kern die Menschen lähmen und die Empathie mit den Menschen vor Ort verhindern. Dies wurde von mehreren Sprecher:innen immer wieder hervorgehoben. Wie wäre es, sich auf das Feld der Unsicherheit und des Nicht-Wissens einzulassen? Entstünde daraus womöglich die Kraft, das Leid und die Schmerzen auf beiden Seiten mit zu spüren? Wäre das nicht ein Anfang, den Menschen in der Region unsere Solidarität einmal ganz anders zu zeigen statt sich in einem angeblichen Wissen um das Richtige einzurichten? Für die Wahrnehmung solcher und weiterer Fragen hat die Tagung zweifellos wichtige Türen geöffnet.

Mit diesem Text möchten wir auch bereits den Blick darauf lenken, dass Spree-Athen im November einen workshop nach dem Muster des Kreisgesprächs zum Thema „Israel – Palästina und die deutsche Perspektive“ zusammen mit der Katholischen Akademie Berlin veranstalten wird. Nähere Informationen dazu wird es dann im Oktober gaben.

Der 7.Oktober und der Krieg in Gaza:

Empathie für beide Seiten?
Reflexe und Reflexionen im Haus der Berliner Festspiele.

von Frank Hahn

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