Sind Hegemonialmächte unabdingbar ?

Dr. Reinhard Hildebrandt
Dr. Reinhard Hildebrandt


Sind Hegemonialmächte unabdingbar?

Vortrag vom 12. April 2011 in Berlin


von Dr. Reinhard Hildebrandt

Die Erfahrung lehrt uns, dass Hegemonialmächte zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie stets den Versuch unternehmen, den hegemonisierten Mächten ihre spezifische Gesellschaftsform, ihr Wertgefüge, ihre Politik und ihre Strategien überzustülpen. Hegemonialmächte schwächen ihre Opfer, entziehen ihnen Ressourcen.

Ob wir der Ausformung von Hegemonialmächten entfliehen können, ist ungewiss und bedarf einer umfassenden Analyse.

Das Imperium versucht, die innere Autonomie und die äußere Handlungsfähigkeit der beherrschten Macht absolut zu unterbinden. Die Hegemonialmacht kann die beherrschte Macht nur in ihrem Streben nach Autonomie begrenzen, aber nicht entscheidend daran hindern. Imperium und Hegemonialmacht formen endliche Strukturen, deren Lebensdauer sie selbst nicht bestimmen können.

Hegemonialmächte verlieren ihre Macht auf dreierlei Weise:

1. durch Überziehung ihres Hegemonialanspruchs;
2. durch Selbstschwächung, indem sie auf obsolet gewordenen Rechten beharren;
3. durch Fehler in der Ausgestaltung ihrer Hegemonialposition.

Zu 1. Überziehung des Hegemonialanspruchs


Die Nato-Konferenz in Bukarest 2008

Gegen den damaligen Vorschlag der USA, der Ukraine und Georgien die Anwartschaft für den Eintritt in die Nato zu öffnen, erwartete die Bush-Administration, dass keines der westeuropäischen Mitglieder der NATO es wagen würde, seine Stimme zu erheben.

Der Hegemon unterstellte bei den Hegemonisierten ein unüberschreitbares abhängiges Bewusstsein.

Die Bush-Administration ging davon aus, dass die von den USA beanspruchte Aura der universellen Repräsentation, d.h. die unangefochtene Führungsmacht des sogenannten „freien Westens“ zu sein, weiterhin voll akzeptiert würde und dass das von ihr ausgewählte aktuelle Arrangement als einzig möglicher Weg unhinterfragt bliebe.

Die von Bush proklamierte Alternativlosigkeit seiner hegemonialen Praxis verkannte jedoch die inzwischen eingetretene Veränderung des hegemonialen Verhältnisses zu Lasten der USA.

Zu 2. Durch Selbstschwächung

, indem sie auf obsolet gewordenen Rechten beharren

Beispiel: Beharren auf Sonderrechten der USA und UK

Die Einschränkungen beziehen sich auf unkündbare Teile des alten Truppenstatuts der Besatzungszeit. Danach müssen den USA und Großbritannien weiterhin alle Eingriffsmöglichkeiten gewährt werden, die sie zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer Truppen in Deutschland für notwendig halten.

Auch während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Jahre 1990 legten die USA und Großbritannien großen Wert darauf, dass sich durch die Wiedervereinigung Deutschlands die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um keinen Deut ändern (zurückbehaltene Souveränitätsrechte).

Folgende Veränderungen gibt es in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA sowie Großbritannien:

1. Da im aktuellen Fall von Libyen die Nato an der Überwachung der Flugverkehrszone über Libyen und an den Angriffen auf strategische Ziele in Libyen zunächst nicht beteiligt war, sah sich die Bundesregierung genötigt, den USA eine Erlaubnis für die Koordinierungsfunktion des Stuttgarter Hauptquartiers der US-Armee zu erteilen.
2. Gefangenentransporte von Guantanamohäftlingen über den deutschen Luftraum. Nachträgliche deutsche Zustimmung.
3. Angebliche Engpässe bei Kasernen. Bis 2020 Abzug.

Zu 3. Fehler in der Ausgestaltung ihrer Hegemonie


Beispiel: Nato-Konsultationsprozess

Im Nato-Konsultationsprozess haben alle Mitglieder die Möglichkeit, sich gegenseitig über ihre Strategien und Taktiken zu informieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu gelangen. Das Wort Konsultation erweckt den Eindruck, dass im Ausschuss alle Nato-Mitglieder auf gleicher Ebene angesiedelt sind. Im Notfall können jedoch die USA auch unilateral und ohne Konsultierung der anderen entscheiden, was zu Zeiten der Bush-Administration auch öfters geschehen ist.

Ein wohlmeinender Hegemon strebt ein kostenfreies ideales Unterordnungsverhältnis an. Wenn gemäß Hegel Deckungsgleichheit zwischen dem Maß an Fürsorge des Herrn gegenüber dem Knecht und dem Wunsch des Knechts nach Anerkennung, Schutz und Dankbarkeit durch den Herrn besteht, erscheint im Bewusstsein des Knechts seine real existierende Unterordnung gerade umgekehrt als absolute Freiheit. Für den Hegemon ist ein solches Verhältnis kostenfrei.

Diese Deckungsgleichheit funktioniert seit dem Ende der Bush-Administration nicht mehr und führt damit zu einer Veränderung des bisher funktionierenden hegemonialen Verhältnisses. Die Folge: Verlust ihres Images als wohlmeinende hegemoniale Macht. Darin sind auch erste Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht zu erkennen.

Anzeichen einer absteigenden Hegemonialmacht


Geopolitisch:

1. Maghreb (Marokko, Algerien, Tunesien)
2. Naher Osten (Ägypten, Libyen, Jordanien, Libanon, Irak, Jemen)
3. Süd- und Mittelamerika (außer in Kolumbien und Honduras)
4. Südostasien (südchinesisches Meer, indischer Ozean, Westrand des Pazifik)

Ökonomisch:

1. Finanzkrise
2. Infrastruktur

Militärisch:

*
militärische Dominanz nicht mehr zu finanzieren.

Das sich abzeichnende Konzert globaler Mächte


1. Der Aufstieg der Schwellenländer China, Indien, Brasilien
2. Russlands Überwindung seiner Schwächeperiode,
3. Die Stabilisierung des Euro durch die EU, um zu einen ernst zu nehmenden Mitspieler auf der Weltbühne zu werden,
4. Die Neuorientierung der Welthandels- und Kapitalströme, nachdem die Ökonomie der USA weiterhin schwächelt,
5. Japans Lähmung aufgrund des Atomreaktorunfalls und der Verwüstungen des Tsunamis,
6. Die Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen der EU und China sowie Indien,
7. Bestrebungen Russlands, eine Brücke zwischen Europa und China zu bilden,
8. Neue Allianzen: Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) avanciert in manchen Gegenden der Erde zum Gegenspieler der NATO. Neue strategische Partnerschaften, z.B. zwischen Russland und China, verschieben die etablierte Weltgesellschaftsordnung.


Die Frage ist nicht, ob wir uns noch hegemoniale Mächte leisten können, sondern ob es gelingt, die USA in die Weltgemeinschaft als gleichberechtigten Partner einzuordnen und ob es zugleich möglich ist, die aufstrebenden Mächte frühzeitig zur Kooperation mit anderen globalen Mitspielern zu ermuntern und sie von ihren möglicherweise vorhandenen hegemonialen Ambitionen abzubringen.

Hegemoniale Formationen und deren hegemoniale Praxis

Hegemoniale Formationen entstehen auf der Ebene der Diskursivität – bzw. der wissenschaftlichen Theoriebildung – als Erweiterung diskursiver Formationen. Was versteht man unter einer diskursiven Formation? Was unter der „Ebene der Diskursivität“, was unter der „Ebene des gesellschaftlichen Ensembles relativ stabiler Formen“?


Die diskursive Formation

Eine diskursive Formation (Foucault) ist ein Ensemble differentieller Positionen, das sich durch eine "Regelmäßigkeit in der Verstreuung" auszeichnet. Mit einfachen Worten:

Der Wissenschaftler beschreibt mit einem allgemeinen Satz ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen oder eine neue Erkenntnis, die im Selbstgespräch oder im Dialog mit anderen entstanden ist. Beispiel: Die Erde dreht sich um die Sonne! Er formuliert also eine Hypothese, aus der er streng rational vorgehend Unterpunkte bzw. voneinander abgeleitete Unteraussagen bis hin zu Basissätzen ableitet (eine diskursive Formation). Dieses Ensemble differentieller Positionen soll, so ist die Annahme, in der empirisch erfassbaren Realität vorzufinden sein. In ihr muss es also die unterstellte „Regelmäßigkeit in der Verstreuung“ geben.

Auf welche Weise das artikulierende Subjekt in den Humanwissenschaften zu einer Aussage über das artikulierte Objekt gelangt, hängt anders als in den Naturwissenschaften von folgenden Überlegungen ab:

1. unter welchem Gesichtspunkt bzw. welcher Zielbestimmung wird das Objekt vom Subjekt wahrgenommen (z.B. welches Problem soll in der Gesellschaft gelöst werden?),
2. welche Bedeutung wird dem sprachlichen Ausdruck des Objekts im artikulierenden Subjekt (subjektiver Hintergrund des Subjekts) zugemessen (davon ist abhängig, was als Randbedingung vernachlässigt wird): Beispiel: US-Amerikaner beurteilt Entwicklungsepochen der Demokratie in Deutschland auf seinem kulturellen US-amerikanischen Hintergrund,
3. wie viele Bedeutungen konkurrieren miteinander (drei Bedeutungen von Zivilgesellschaft),
4. welche Bedeutungen werden aus der Vielzahl der Bedeutungen für die Begriffsbildung ausgewählt und welche werden ignoriert: Rückkehr zur Zielbestimmung.


Was unterscheidet die hegemoniale von der diskursiven Formation?

Eine hegemoniale Formation zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf einem Feld der Theoriebildung die Deutungshoheit gewonnen hat und damit auf die Ebene der gesellschaftlichen Praxis einwirkt. Bei ihrem Kampf um die Erringung und Erhaltung der Deutungshoheit unterliegt sie acht zu beachtenden Ausgangsbedingungen:

1. Jeder ausdifferenzierte einzelne Begriff sowie die Gesamtheit der strukturierten Totalitäten /Formationen bleiben notwendigerweise unabgeschlossen.
2. Weder die Basissätze einer Deduktion können empirisch restlos bewiesen werden noch muss die Logik des Modells der immanenten Logik des Objekts entsprechen.
3. Die von Kant gegen missbräuchliche Resultate der reinen Vernunft ins Feld geführten Verstandesbegriffe können Widerspruchsfreiheit in der theoretischen Analyse garantieren.
4. Warum ist die Unabgeschlossenheit diskursiver Formationen eine Voraussetzung für jede hegemoniale Praxis?

Im Entstehungs- und Vergehensprozess einer endlichen Struktur ist zwar die Spur ihrer Vergänglichkeit immanent eingezeichnet, aber in der Pluralität der zu jedem Zeitpunkt möglichen Arrangements bleibt sie verborgen. Es ist unentscheidbar, welche der möglichen Arrangements ihr am nächsten kommen. Je komplexer endliche Strukturen beschaffen sind, desto weniger lässt sich das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten überschauen, vorhersagen und daraufhin überprüfen, welche der veränderbaren Komponenten die Lebensdauer der Struktur optimieren. Neue diskursive Formationen werden deshalb sorgsam interessenbezogen daraufhin überprüft, ob sie für aktuell erforderliche Arrangements der Machterhaltung dienen.

1. Hinter der Fassade vorgetäuschter „Machtferne“ für die Ebene der Diskursivität verbirgt sich ein Problem. Zwischen ihr und den anderen Ebenen praktischen Handelns existieren zahlreiche Berührungspunkte: z.B. zur Produktion handwerklich und industriell hergestellter Waren, zum Geldhandel, zum Kreditmarkt, zu den Dienstleistungen, der privaten sowie öffentlichen Verwaltung und zum zivilgesellschaftlichen Engagement. Neue diskursive Formationen können für diese Praxisformen unabsehbare Folgen für ihre aktuellen und künftigen Arrangements haben. Deren Repräsentanten beobachten deshalb sehr genau die Ebene der Diskursivität und nehmen auf vielfältige Weise Einfluss auf das Entstehen neuer diskursiver Formationen.
2. Die Ebene der Diskursivität ist nicht machtfern oder gar machtfrei. Auf ihr sind von lächerlichen Hahnenkämpfen bis zu herrisch auftretenden Schulen und deren finanzielle Förderung durch Machteliten alle Schattierungen der Macht anzutreffen. Diffamierungen sind ein oft eingesetztes Mittel der Machterhaltung. In den einschlägigen Wissenschaftsjournalen setzen sich die Kämpfe um Deutungshoheit fort.
3. Die Praxis einer hegemonialen Formation muss sowohl auf Veränderungen in den in ihr inkorporierten Systemen von Differenzen, Äquivalenzketten (z.B. Unternehmerlager versus Gewerkschaften) und Formen der Überdeterminierung (Existenz von Über- und Unterordnungsverhältnissen) reagieren, als auch Veränderungen ihres Terrains, auf dem sie tätig ist, berücksichtigen.
4. Damit wird deutlich, dass hegemoniale Formationen niemals abgeschlossen sind. Ohne diese Unabgeschlossenheit gäbe es keine Zugewinn- und Verlustmöglichkeiten. Obwohl oder gerade weil sich die Repräsentanten einer hegemonialen Formation der Unabgeschlossenheit als Voraussetzung ihres Handelns bewusst sind, umgeben sie sich und das von ihnen ausgewählte aktuelle Arrangement stets mit der Aura des Universellen. Ihre hegemoniale Praxis stellen sie damit selbst gern als alternativlos dar.


Sind Hegemonialmächte unabdingbar?

Vortrag vom 12. April 2011 in Berlin
von Dr. Reinhard Hildebrandt

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