Tagebücher aus dem Jahrzehnt des Umbruchs in Polen
Die folgende Rezension der Tagebücher von Karol Sauerland erscheint nicht zuletzt auf unserer Seite, weil der Autor einigen als Vortragender auf Spree-Athen Abenden bekannt sein wird.
Tagebücher aus einer versunkenen Welt, so könnte man sie nennen, die Aufzeichnungen von Karol Sauerland aus dem Polen der Jahre 1980 - 1991. Was könnte den Leser von heute daran reizen? Vielleicht die Melancholie des Versunkenen, die Romantik eines vergangenen Freiheitskampfes? Doch im Laufe der Lektüre dieser Tagebücher schält sich etwas Überzeitliches aus den 500 Seiten an Notizen heraus, etwas, das uns auch heute und vielleicht immer betrifft.
Die polnischen Ereignisse der 1980er Jahre sind singulär und waren in dieser Form aus historischen und kulturellen Gründen nur in Polen möglich, doch zugleich kristallisiert sich in ihnen, wenn man Sauerlands Tagebücher liest, etwas Allgemeineres heraus, das wir leicht zu vergessen neigen: das Fragile, ja geradezu Fragmentarische der menschlichen Existenz, das sich zuweilen im unheimlichen Nebeneinander von Alltäglichkeit und Groteske manifestiert. Oder wie Sauerland am 29.1.1981 notiert: „Es ist alles romantisch, surrealistisch und erschreckend zugleich“. Das Erschreckende bezieht sich dabei auf die wachsende Unerschrockenheit der Menschen im Umgang mit der Macht, die natürlich jederzeit zurückschlagen kann.
Sauerland ist als Kind kommunistischer Eltern 1936 in Moskau im berüchtigten Hotel Lux zur Welt gekommen. Sein Vater wurde unter Stalin ermordet, mit seiner Mutter kehrte der Autor später in den Ostteil Berlins zurück. Als Student bekam er es Mitte der Fünfziger Jahre wiederholt mit der Staatsmacht zu tun. Auf einer Reise ins Nachbarland Polen erlebte er eine freizügigere Gesellschaft sowie offenherzige Menschen. Er plante seine Übersiedlung, die 1959 mit der Erlangung der polnischen Staatsbürgerschaft erfolgte. Er schrieb sich als Student für Mathematik, Philosophie und Germanistik an der Warschauer Universität ein, wo er später – wie auch in Thorn – eine Professur für Germanistik erhielt. 1980 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Solidarność an der Universität.
Insofern war Sauerland mehr als ein Beobachter, man würde ihn heute als Aktivisten bezeichnen. Und doch nennt er seine Tagebücher die eines „engagierten Beobachters“. Wer die damaligen Ereignisse in Polen vom Westen aus mit verfolgt hat, geriet fortwährend ins Staunen: Streiks in einem kommunistischen Land, daraufhin die Gründung einer von der Partei unabhängigen Gewerkschaft, die auch noch eine Sektion für die Bauern gründet, freie Rede in der Öffentlichkeit und im Parlament. Was am 31.August 1980 mit dem Danziger Abkommen zwischen der Partei und der Solidarność Führung begann, führte zu einer Phase von „sechzehn Monaten der Freiheit“ – so auch der Titel des ersten Teils aus dem Tagebuch. Zugleich aber, und das wird zu einem Grundton der teilweise sehr persönlichen Aufzeichnungen, gibt es wenig Grund zu andauernder Euphorie. Sauerland berichtet von vielfachen Rückschlägen, die ihn bedrückt haben, und von der immer wieder aufkeimenden Angst vor einer russischen Invasion oder dem Ausnahmezustand, der dann mit dem Kriegsrecht am 13.12.1981 schließlich verhängt wurde. Das Tagebuch ist kein Geschichtsbuch, es liefert keine Analyse der Ereignisse, vielmehr ist es das Werk des klassischen Chronisten. Die häufig fragmentarischen Einträge verdeutlichen, wie konstruiert zuweilen nachträglich erstellte historische Analysen sind. Allein diese andere Art des Eintauchens in das Vergangene lohnt die Lektüre, unabhängig davon, welchen Bezug der Leser zu Polen oder den Ereignissen seinerzeit hat
Der Chronist berichtet nüchtern aus der Mitte des Geschehens heraus, doch gerade in dieser Faktizität vibriert, wenn er sein Handwerk versteht, die tägliche Anspannung und Überraschung bis hin zur völligen Ungewissheit gegenüber den Ereignissen. Bei Sauerland zeigt sich dies in Wendungen wie „Die Zeit eilt schneller als man mitnotieren kann.“ Oder: „Es tut sich im Laufe des Tages so viel, dass man nicht mehr mitkommt, man könnte einfach trockene Fakten seitenlang aufschreiben.“ Diese Bemerkungen aus dem Winter 1980/81 beziehen sich auf das tägliche Ringen um Einfluss und Macht zwischen Solidarność und Partei, zwischen drohendem Generalstreik und Beruhigung, zwischen Besuchen der Offiziellen in Moskau und Rom. Eine vor Erregung zitternde Zeit, die wir uns heute kaum noch vorstellen können, eine Zeit, in der tatsächlich noch um Freiheit gerungen wurde (oder was man dafür hielt).
Das Kriegsrecht
Der große Einschnitt dann die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981, das über eineinhalb Jahre gelten sollte. Das Land erstarrte in Schnee und Kälte und dem Kappen der Telefonverbindungen. Aber irgendwie schien es erlaubt, sich noch durch de Stadt zu bewegen, jedenfalls bis zur nächtlichen Ausgangssperre. Und so erfährt der Leser davon, wie die Warschauer unermüdlich auf den Beinen waren, um sich gegenseitig aufzusuchen und Informationen auszutauschen – eine groteske Vorstellung, zumal der Verkehr immer mehr ins Stocken geriet und Menschen teilweise lange Fußwege auf sich nehmen mussten. (Wie wäre es heute, wann das Internet abgestellt würde? ) Aus der Zeit zwischen Weihnachten 1981 und dem Dreikönigstag 1982 sind viele fragmentarische Notizen zu lesen, die in ihrer Lakonie einen guten Einblick in die Zerrissenheit der Lage zwischen Hoffnungslosigkeit und Groteske bieten. Hier Beispiele:
„Die Philosophiestudenten, die vor einem Militärgericht standen, sind einem Zivilgericht zugewiesen worden. Ihnen droht nur (!) ein halbes Jahr Haft….“
„Der Verkehr in Warschau hat sich in eine unerhörte Plage verwandelt. Man wartet bis zu einer Stunde auf die Straßenbahn“
„Heinrich Böll erklärte gestern, der Westen tue zu wenig für Polen. In Deutschland hat man wie immer Angst vor der Unruhe. Man müsste dann ja Farbe bekennen.“
„In der Hütte Katowice ist der Streik von 2000 Arbeitern zu Ende gegangen, wie es heißt. Die „Rädelsführer“ werden natürlich hart bestraft….“
„In Danzig steht eine Auseinandersetzung auf der Werft nach dem Freitag bevor, hört man im Radio.“
„Insgesamt kann man sagen: nichts Genaues weiß man, Alles ist offen. Die Armee hat keinen Blitzsieg davon getragen, was ihr Ziel war. Welche Armee möchte nicht Blitzkriege davontragen?“
„Der nächste Botschafter (Japan) hat um Asyl gebeten.“
„Keiner scheint zu wissen, wie man es hätte anders machen können, sollen.“
„Alle paar Stunden fahren Fahrzeuge vorbei, die den Schnee wegschieben. Die Straßen müssen befahrbar sein. Es könnte ja irgendwo irgendetwas passieren.“
„Oft erörtert man, was man so alles bei der Haft brauche. Toilettenpapier (sic!), Beruhigungsmittel, Seife werden immer wieder genannt.“
„Viele klagen, dass sie über keine Informationen mehr verfügen, sich viele Informationen als falsch erweisen: plötzlich ist jemand gestorben, kurz danach lebt er wieder etc. Wie steht es mit der Zahl der Toten, fragen sie.“
„Ein Geheimnis bleibt Schlesien. Dort muss sich vieles zugetragen haben. Keiner weiß was.“
„Jetzt kann man vom Telefonautomaten aus schon sechs Nummer anrufen: den Rettungsdienst, die Polizei, die Feuerwehr, den Gas- und Elektrizitätsdienst. Was für ein Fortschritt in drei Wochen!“
„Ich leide an Zahnscherzen. Mein Innenleben ist völlig durcheinander.“
„Nichts getan, obwohl ich ausgeschlafen war. Durch das Herumlaufen verliert man eben viel Zeit.“
In dieser Phase vertieft sich der Autor in Studien zu den Revolutionen des 18.Jahrhunderts in Frankreich und den USA sowie zu Fragen der Selbstverwaltung. Er liest Hannah Arendt, Canetti, Montesquieu und diskutiert mit seinen Studenten darüber. Keine blutleere Wissenschaft, sondern historisch-philosophische Seminare mit dringlichem Bezug zur unmittelbaren Gegenwart. Vor allem Rechtsfragen interessieren den Autor, nicht schwärmerische Utopien. Unter dem 26.4.1981 liest man folgende Notizen:
„Gestern Vorlesung über Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, insbesondere über die These des Ausnahmezustands und der Melancholie. Jede Sehnsucht nach einem Ausnahmezustand hat etwas A-geschichtliches (es ist die Sehnsucht nach der natürlichen Ordnung) und zugleich Utopisches an sich. Utopie ist ja stets etwas Ruhiges, ja Starres, daher die Neigung der Utopisten zum Totalitären (=Unbeweglichen).
„Kunst und Natur sind auch ein Ausnahmezustand, d.h. ein Hinaus aus dem Treiben in die Ruhe, Ferne und damit etwas Utopisches.“
„Nicht zufällig sagte Wałęsa, dass er, wenn er aufhöre, an der Sputze der Gewerkschaft zu stehen, angeln ginge – in die Stille, die Freiheit von Geschichte.“
Priester Popieluszko
Ein anderer Tonfall wird angeschlagen, als es um das Jahr 1984 geht, in dem zwei Ereignisse für den Verfasser bestimmend gewesen zu sein scheinen. Das Eine traf ihn persönlich, nämlich die Einziehung seines Passes (also Reiseverbot), Verhöre und Hausdurchsuchungen, währen das andere im Oktober 1984 ganz Polen tief erschüttert hat: die Ermordung des Priesters Jerzy Popiełuszko. Sauerland bleibt dabei der Berichterstatter, doch weniger im lakonischen und fragmentarischen Stil des Chronisten - vielmehr schreibt er kohärent im großen Bogen und aus unmittelbarer persönlicher Betroffenheit. Die grausame Tat des Priestermords, ausgeführt von drei Offizieren des Geheimdienstes, ist oft erzählt worden und berührt immer wieder neu. Nicht zuletzt das berühmte Begräbnis in Warschau, zu dem sich die Straßen mit einer halben Million Menschen füllten und die Staatsmacht sich mit Provokationen und Gewaltanwendung zurückhalten musste. Weniger präsent im Gedächtnis des Westens dürfte sein, dass Popiełuszko seit dem Herbst 1980, nachdem er eine Messe für die streikenden Arbeiter der Warschauer Stahlhütte abgehalten hatte, Monat für Monat die sogenannten Messen für das Vaterland las, in denen er immer unverhohlener das kommunistische Regime verurteilte. Sauerlands Notizen zeigen Popiełuszko dabei nicht als Eiferer, sondern vielmehr als einen gradlinigen, aufrichtigen Menschen, der bereit war, Alles zu riskieren. Seine Unerschrockenheit fand dabei in der Amtskirche nicht nur Wohlgefallen. Beim Lesen des Tagebuchs wird einem der tief religiöse oder auch spirituelle Charakter des polnischen Widerstands der 1980er Jahre noch einmal bewusst, mit dem viele Menschen dort die dunkle Zeit des Kriegsrechts überstanden haben und ohne die es vielleicht 1988/89 nicht zur friedlichen Abdankung der Partei gekommen wäre – mit entsprechenden Folgen für Europa. Unter diesem Aspekt wird manches verständlicher, was sich heute in Polen zuträgt. Wobei das Nicht-Verstehen, auch das erfahren wir in den Tagebüchern, fast so etwas wie eine Konstante vor allem unter deutsche Zeitgenossen ist (damals sowohl der moralistisch sich gebenden Westdeutschen wie der preußischen DDRler). Köstlich übrigens, wie Sauerland den Besuch Herbert Wehners – auch er voller Unverständnis - im Jahre 1982 beschreibt, der statt eines politischen Statements sich über die „säuische Behandlung“ im Schlafwagen beschwert hat. Für die Rückfahrt bekam er dann einen Sonderwagen mit vier Dienern. Mit Wałęsa oder einem Vertreter der Solidarność hat er übrigens nicht gesprochen, sondern nur mit den Offiziellen der Junta.
Das Jahr 1989
Das Jahr 1989 nimmt überraschenderweise nur ein Viertel der veröffentlichten Tagebücher ein. Zudem werden dabei die polnischen Ereignisse – im Vergleich zu den anderen Teilen – mit einer merkwürdig anmutenden Distanz beschrieben. Das mag zum Einen daran liegen, dass Sauerland in dem Jahr, wie es scheint, fast ununterbrochen zu Vortragsreisen und Konferenzbesuchen im europäischen Ausland unterwegs war. Zum anderen spitzten sich spätestens seit dem Spätsommer die Ereignisse in der DDR, in Ungarn und am Ende in Rumänien mehr zu als die vergleichsweise in ruhigere, sprich parlamentarische Gleise, gebrachte Entwicklung in Polen. Man gewinnt den Eindruck, der Autor erlebe dies als Erlahmen des revolutionären Impetus in Polen. Er beklagt denn auch, dass man im Gegensatz zu 1981 wenig Demokratie einübe.
In diesem Umfeld kommt neben dem Chronisten und dem Intellektuellen, der viel von seinen Projekten erzählt, auch noch ein feinsinniger Beobachter zu Wort, der in poetischer Sprache über die Natur oder über Szenen mit Kindern auf seinen Reisen schreibt. Anlässlich einer Nietzsche Tagung im schweizerischen Sils Maria lesen wir unter dem 3.10.1989 das Folgende:
„Die Sterne waren größer als ich sie je gesehen hatte. Die Milchstraße strotze vor Reichtum. Ich schaute fasziniert nach oben…“ Und einige Tage später: „In der letzten Nacht in Sils hatte ich noch einmal die großen Sterne und die riesige Milchstraße bewundert. Trost ergriff mich angesichts des Bewusstseins unseres, d.h. der Menschheit Untergang – denn was sind wir schon in diesem Kosmos, den können wir nicht zerstören, nur unsere eigenen Lebensbedingungen.“
Dass hier das Motiv des Trostes auftaucht, Anfang Oktober 1989, scheint ernüchternd und seherisch zugleich. Aus heutiger Perspektive durchaus eine kluge Intuition. Was tröstet uns heute, angesichts schwindender Freiheit? Können wir vielleicht sogar, statt auf Trost zu hoffen, etwas aus den polnischen Ereignissen der Jahre 1980/81 lernen? Die Tagebücher jedenfalls bringen uns eine der wohl markantesten Freiheitsbewegungen des 20. Jahrhunderts noch einmal auf originelle Weise nahe.
Karol Sauerland
„Es ist alles romantisch, surrealistisch und erschreckend zugleich"
Tagebücher aus dem Jahrzehnt des Umbruchs in Polen
von Frank Hahn