Zu Ephraim Meirs "Differenz und Dialog"

Wenn sich hoffentlich die Dinge im Laufe des Jahres normalisieren, wird im Herbst Ephraim Meir aus Israel im Rahmen unseres Vortragsprogramms zu uns sprechen. Meir ist emeritierter Professor für jüdische Philosophie. Die folgende Rezension zu Meirs Buch "Differenz und Dialog" gibt einen Einblick in sein Denken.


Dialogisches Judentum: vom Anderen im Eigenen zum ewigen Du –
Zu Ephraim Meirs „Differenz und Dialog“
*

von Frank Hahn

Bildquelle: Waxmann-Verlag
Bildquelle: Waxmann-Verlag


Der Titel des Buches, das der jüdische Religionswissenschaftler Ephraim Meir in der Reihe „Religionen im Dialog“ veröffentlicht hat, erscheint klar und zugleich unspektakulär: „Differenz und Dialog“. Wie viel ist über beide Begriffe nicht schon geschrieben worden! Doch ist es nicht wieder einmal das Wörtchen „und“, das aus unscheinbarer Schlichtheit Funken schlägt? Wieder einmal, wie bei Buber, Rosenzweig und vielen anderen Denkern tritt hier ein starkes korrelatives „und“ auf, zugleich vereinend und trennend, somit ein dynamisches „und“, das sagt, wie beides – Vereinigung und Trennung – in lebendiger, d.h. sich stets erneuernder Wechselwirkung und Durchdringung zu denken sind. Die Gleichzeitigkeit von Wechselwirkung und Durchdringung begleitet denn auch wie ein Orgelton den sich vielfältig aufblätternden Text des vorliegenden Buches. Man kann es als meisterlich komponiertes Kaleidoskop dialogischer jüdischer Denker der Moderne von Levinas, Buber, Rosenzweig, Heschel bis Sigmund Freud lesen, wobei Meir der Spagat gelingt, die Gelehrten nicht zu langweilen und den interessierten Laien oder Neuling zugleich nicht zu überfordern. Für die einen entdeckt er bisher unterbelichtete Facetten ihres Werks: so hebt er bei Levinas hervor, wie sehr das Griechische im Hebräischen seines Denkens und umgekehrt wirkt – Differenz und Dialog. Oder wie sich bei Rosenzweig die Bibel und Goethe ergänzen statt sich auszuschließen. Zugleich ist der Neuling in Fragen des jüdischen Denkens behutsam und kraftvoll in dieses so vielseitige Universum eingeführt, mit klug gewählten Verweisen auf die historischen Zusammenhänge und Bezüge zu weiteren Autoren.

Sind aber Dialog und Differenz nicht universelle Konzepte und nicht nur jüdische Themen? In manchen Texten abendländischer Philosophie wie auch in asiatischen Weisheitslehren findet sich durchaus die Überlegung, dass der Dialog, um anregend und fruchtbar zu sein, der Differenz bedarf - und dass die Differenz in ihrem Potenzial ohne den Dialog unfruchtbar bliebe. Doch viel hängt von der Übersetzung des Wortes Dialog ab. Landläufig verstehen wir darunter ein Gespräch, sei es zu zweien oder mehreren. Doch das „Dia“zusammen mit dem „Logos“ bedeutet zunächst nichts anderes als die „Rede hindurch“ oder auch die „verstreute Rede“ – d.h. ein Sagen durch verschiedene Ebenen des Sinns und der Bedeutung hindurch, als ob schon in der Sprache selbst die Differenz angelegt ist. Jedes Wort differiert mit sich selbst, was jeder Talmud-Leser unmittelbar in der Begegnung mit dem Text erlebt. So verstanden wäre das Judentum jene kulturelle, spirituelle, religiöse, ethnische und philosophische Singularität, die in ihrem inneren Kern von Differenz und Dialog geprägt ist. Das wäre eine Lesart des Buches von Ephraim Meir – und eine, die vor allem das Wort an die eigene, jüdische Leserschaft richtet. Doch zugleich will es von Nicht-Juden gelesen werden, wird die Reihe „Religionen im Dialog“ doch von der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg herausgegeben.

Vielleicht haben die Juden zum Dialog der Religionen einen besonderen Beitrag zu leisten, weil sie das Verschiedene und das Andere im Eigenen nicht – oder weniger als die Anderen - leugnen? Diese These wird erhärtet durch den Mittelteil des Buches, der das Blättern im Kaleidoskop jüdischer Denker scheinbar unterbricht, nur um es auf andere Weise weiter zu führen. Dieser Teil trägt die Überschrift „Jüdische Existenz“, und er wirkt wie das Scharnier des ganzen Buches, um das die anderen Teile kreisen und zugleich von ihm zusammengehalten werden. Hier geht es um das große Thema von Partikularität und Universalität im Judentum –oder auch um die jüdische Besonderheit.

Die erste Zwischenüberschrift dieses Teils lautet „Über das Volk des Buches und die Vielzahl der Interpretationen“. Und eben diese Vielstimmigkeit des Textes ist für Meir nicht nur Bedingung der Wahrheit, sondern auch Garant für eine anti-totalitäre Lesart der Tora. Mit der notwendigen Pluralität der Auslegungen alter hebräischer Texte stellt sich natürlich sogleich die Frage, inwieweit hier auch nicht-jüdische Leser angesprochen sind. Das Buch heißt „Differenz und Dialog“, und so fädelt Meir an dieser Stelle elegant den Hinweis ein, dass das Judentum etwas von nicht-jüdischen Schriften über sich selbst lernen könne:

„Juden sollten sich für nicht-jüdische Schriften interessieren – nicht, um den Unterschied zu zeigen, sondern um jüdische Elemente in nichtjüdischen Schriften zu entdecken. Folglich kann man über das Judentum nicht nur aus dem lernen, was das jüdische Volk tut, sondern auch aus dem, was Nichtjuden tun, wenn sie sich „jüdisch“ verhalten, sprich auf eine Weise, die ein Übermaß an Verantwortung bezeugt.“

Meir adressiert hier nicht zuletzt seine jüdischen Leser, die er vor dem Fanatismus eines rein partikularen Judentums warnt, das sich der Universalität – oder besser dem Wirken in und der Begegnung mit der Welt als Ganzer – verschließt. Während durch Assimilation die jüdische Besonderheit verloren zu gehen drohe, sei umgekehrt die Konzentration auf enge ethnische Elemente auch keine Antwort auf die Spannung zwischen Partikularität und Universalität.

Professor Ephraim Meir
Professor Ephraim Meir


Worin aber wurzelt diese Spannung? Warum drückt sie sich gerade im Judentum mit seiner Bestätigung einer Alterität in der Identität aus? Dies ist vermutlich eine der Fragen, die Nicht-Juden aus Unverständnis gern abwehren. Latent oder offen anti-semitische Strömungen setzen hier zudem gern an und werfen den Juden den Anspruch auf eine Sonderstellung vor. Und dieser Vorwurf schleicht sich auf subtile Weise selbst bei den wohlmeinenden Nicht-Juden ein, solange sie die Tiefe und Brisanz jener Fragen nicht verstehen, die sich Juden in Bezug auf Partikularität, Universalität, Identität und Assimilation stellen. Meir kommt hier das große Verdienst zu, auf wenigen Seiten und doch in einem weiten Bogen diese Brisanz und Tiefe noch einmal auszuloten. Dabei führt er seine Leser von den biblischen Texten bis zur Postmoderne und Autoren wie Jacques Derrida, Emmanuel Levinas, Maurice Blanchot und Jean-Francois Lyotard, aber auch den Schriftstellern und Schriftstellerinnen Hélène Cixous, Paul Celan, Samuel Agnon und Edmond Jabès. Sie sind es, die das Thema einer jüdischen Besonderheit und damit der Spannung zwischen Partikularität und Universalität für unsere Zeit neu und radikal formuliert haben. Meir sagt es vor diesem Hintergrund so:

„Das Judentum wendet sich dem zu, was sich jeglicher Beschreibung entzieht, es bezeichnet das nicht Bezeichenbare mit einem Zeichen“.

Er verweist auf die Stimme, die von den Juden fordert, aus sich herauszugehen zugunsten einer höheren Wirklichkeit und zitiert Edmond Jabès, wonach das Eintreten in das Denken Gottes bedeute, „das Undenkbare zu denken“. Abwesenheit, Leere, Nicht-Identität sind weitere Namen aus dem postmodernen jüdischen – und nicht-jüdischen - Diskurs, an denen nicht zuletzt deutlich wird, dass die jüdische Besonderheit weniger ein Privileg als vielmehr eine Aufgabe bedeutet, die manchen sogar als Bürde erscheinen mag.

Man könnte es so sagen: das Judentum hat es auf sich genommen, das von den anderen Kulturen Verstoßene und Unterdrückte zu benennen, es dem Vergessen zu entreißen – oder wie Meir es sagt: die anderen Kulturen mit diesem Vergessenen zu überraschen. Solche Überraschungen werden jedoch selten geschätzt, reicht doch das „Vergessen des Vergessenen“ in die tiefsten Schichten kollektiver und individueller Seelen hinab. Was aber ist es, das vergessen wurde und zugleich im Judentum immer wieder auftaucht? Hier bezieht sich Meir auf Freud, der in seinem Buch „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ vom „verdrängten Vatermord“ als „Ursprung der jüdischen Religion“ spricht. Nach dem Vergessen sei es jedoch zur Wiederkehr des Verdrängten gekommen: hierin liege laut Meir die Genialität des jüdischen Volkes, dass es angesichts des Vergessenen die ethischen Konsequenzen der mosaischen Lehre angenommen und sich der Vision einer gerechten Gesellschaft zugewandt habe. Meir denkt Freud in psychologischer, philosophischer und historischer Hinsicht weiter und untersucht auch die Ähnlichkeiten zu späteren Autoren. Dabei zitiert er u.a. Lyotard, der ebenfalls eine Verbindung der Vision einer gerechten Gesellschaft mit dem Vergessen und der Wiederkehr des Unvergesslichen sieht.

Es sind wohl nicht zuletzt auch die Polaritäten in ihm selbst, denen sich der Mensch nur ungern öffnet und von denen die Propheten zeugen. Nicht zu vergessen, dass es etwas gibt, das den Menschen so weit übersteigt, dass kein Name es benennen und kein Bild es zeigen kann, auch dies mag zu den Überraschungen gehören, die Meir erwähnt, und auf die die nichtjüdische Welt seit jeher mit Abwehr reagiert.

Mit einer großzügigen Geste würdigt Meir den besonderen Beitrag der modernen Literatur zu diesen Fragen. Insofern sich die Literatur dem Rätsel der menschlichen Begegnung widme, schaffe sie den Raum, in dem Menschen in ihrer „Nicht-Identität“ oder ihrem Geheimnis einander im Du – und damit laut Buber zugleich dem ewigen Du Gottes – begegnen. Meir schreibt dazu:

„In der modernen Literatur ist es möglich, die Spuren Gottes zu finden, die uns mit dem Mitmenschen verbinden. In dieser Literatur erscheint Gott wie der ursprünglichere Text unter der Oberfläche des Textes wie in einem Palimpsest…Reste des lebendigen Gottes verborgen, die ihn aus einer tiefen Verpflichtung gegenüber dem „Nicht-Ich“ heraus bezeugt.“

Bemerkenswert ist die Hinwendung Meirs zu der in feministischen Kreisen gefeierten französischen Schriftstellerin Hélène Cixous, die als Tochter einer geflohenen deutschen Jüdin in Algerien geboren wurde und die von daher eine lebenslange Freundschaft mit Jacques Derrida verbunden hat. In diesen Zusammenhang fügt sich Meirs– ebenfalls bemerkenswerter – Vergleich des Judentums mit der Weiblichkeit, da beide jeweils auf ihre Weise ein heterogenes Element in die Welt brächten. Cixous‘ Beitrag zur Frage der jüdischen Identität hebt Meir vor allem deswegen hervor, weil sie sich der Bedeutung des Nicht-Ich gewidmet habe, indem sie die Starre des immer nur mit sich selbst Identischen auflöst zugunsten eines Ichs, das zum Übergangsort einer Gastfreundschaft wird, die den Anderen empfängt.

Meir selbst sagt dazu: „Das ‚Ich‘ kann nicht ohne das „Nicht-Ich“ erfasst werden.“ Da er beides in Anführungsstriche setzt, widerspricht er damit einer starren Definition dessen, was wir voreilig „Ich“ zu nennen gewohnt sind. Als gelehrter Kenner Martin Bubers liegt ihm das „Zwischen“ am Herzen, das sich in der Begegnung mit dem Anderen öffnet, um gerade das festgefügte Ich schmelzen und sich wandeln zu lassen – eine wichtige Voraussetzung für die im Jüdischen so wichtige Umkehr, ein Begriff, der Meir mindestens so am Herzen liegt wie der des Dialogs.

Das Buch „Differenz und Dialog“ macht sich stark für die Begegnung des Judentums mit der Welt und umgekehrt, dem Autor liegt besonders auch das jüdisch-christliche Gespräch am Herzen. Begegnungen dieser Art, wie sie gerade auch in Israel stattfinden, werden im Text hervorgehoben, und zugleich wird an die Juden in Israel appelliert, die Tradition des Jüdischen Lehrhauses aufzugreifen und überall im Land Lehrhäuser ins Leben zu rufen, in denen Buber, Rosenzweig, Levinas und Heschel studiert würden, da nur die „Kombination von Judentum und Zugehörigkeit zur weiten Welt zu einer Erneuerung jüdischen Lebens in Israel führen könne“.

Diese „weite Welt“ wiederum bedarf des Judentums als Gesprächspartner, so ließe sich Meirs Anliegen zusammenfassen, denn dieses steht exemplarisch für den „Dialog schlechthin“: Indem das Judentum auf die Differenz im Eigenen verweist und also stets zum Dialog mit sich selbst aufruft, ohne den der mit der Außenwelt nicht gelingen kann.


Ephraim Meir: „Differenz und Dialog“ –
erschienen in der Reihe Religionen im Dialog, Waxmann Verlag, Münster 2011



* Ephraim Meir, Differenz und Dialog (Bd. 4, Religionen im Dialog. Eine Schriftenreihe der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg), übersetzt von Elke Morlok, Waxmann 2011.

Rezension

Dialogisches Judentum: vom Anderen im Eigenen zum ewigen Du -
Zu Ephraim Meirs "Differenz und Dialog"
von Frank Hahn

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