Rahel Mann
Sie saß immer in der ersten Reihe, schick gekleidet war sie, und ihre Lieblingsfarbe war rot. Manchmal lag erst nur ihr Schal auf dem Stuhl, den sie sich für den Abend im Kaminzimmer des Literaturhauses ausgesucht hatte, um bei einer der Veranstaltungen von Spree-Athen dabei zu sein. In den letzten zwölf Jahren hat sie kaum je eine davon versäumt. Wenn ich eine halbe Stunde vor Beginn kam, war Rahel Mann immer schon da, entweder persönlich oder in Form des Schals, auch er meistens rot. Wenn einmal weder sie noch der Schal zu erblicken waren, konnte ich schon nervös werden. War etwas passiert? Irgendwie ein schlechtes Omen.
Eigentlich war nie „etwas passiert“. Dann kamen die zwei Jahre der pandemischen Pause, und gerade jetzt, wo wir langsam wieder mit öffentlichen Zusammenkünften beginnen können, ist eben doch etwas passiert. Rahel Mann hat die Bahn Ihres reichen Lebens, das von Schmerz und Schrecken genauso geprägt war wie von großer Fülle im geistigen und spirituellen Sinn, vollendet. Am 31.März ist sie zwei Monate vor ihrem 85.Geburtstag gestorben. Nun wird der Platz in der ersten Reihe leer bleiben, auch wenn andere sich dort hinsetzen werden. Die Lücke bleibt.
Wie soll ich Rahel Mann nennen? Einen streitbaren Engel? Der Engel gefällt mir gut, sie hatte einige davon in ihrer kleinen Wohnung auf Bildern von Chagall. Ich denke jedoch eher an die Engel von Klee. Sie tragen menschliche Züge, es gibt von ihm zum Beispiel den hässlichen, den zweifelnden, den vergesslichen Engel und den Engel im Kindergarten. Ob er einen streitbaren gezeichnet oder gemalt hat, kann ich nicht sagen, aber der Name passt auf Rahel Mann. Nach dem Vortrag im Kaminzimmer war sie oft die erste, die sich in der Diskussion zu Wort gemeldet hat – hellwach, scharfzüngig und zuweilen auch angriffslustig. So war sie bekannt, manche gingen vor ihr in Deckung, die meisten waren fasziniert. Denn sie hatte etwas zu sagen – die Frau mit den fünf Berufen, wie sie immer wieder betont hat. Fünf? Sie zählte sie gern auf: Ärztin, Lehrerin, Psychotherapeutin, Lyrikerin und Astrologin. Vor allem aber war sie stadtbekannt durch ihre Geschichte: Als vierjähriges jüdisches Kind vor den Nazis im Keller eines Hauses in Berlin-Schöneberg jahrelang versteckt, später dann, als es immer brenzliger wurde, von einem Versteck zum nächsten weitergereicht. Unzählige Male hat sie ihr Leben an Berliner Schulen und vielen anderen Institutionen erzählt, und ihre Geschichte ist ebenfalls Teil der Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg. Was die Menschen in ihren Bann gezogen hat, war die Art ihrer Erzählung: Sie hat vor dem Hintergrund ihrer prägenden, wir würden heute sagen traumatischen, Kindheitserlebnisse zu Eigensinn und Widerstand aufgerufen, wo immer er geboten ist. Und hat selbst ein Beispiel dafür gegeben.
Ihr Platz an den Abenden im Kaminzimmer war nicht immer nur unter den Zuhörenden, sie war auch das eine oder andere Mal selbst die Vortragende. Vor vielen Jahren hat sie von ihrem Lebensweg von Berlin nach Jerusalem und zurück erzählt. Ganz besonders lebendig ist vielen von uns noch ihr Vortrag über die „22 Buchstaben des hebräischen Alphabets als Bausteine der Schöpfung“ im Gedächtnis, den sie im Jahre 2016 gehalten hat.
Obwohl sie sich in den Büchern der Tora gut auskannte, glaubte sie an keinen Gott. Gläubige, oder wie sie betonte, konfessionell gebundene Menschen hielt sie für autoritätshörig und unfähig, für sich selbst zu denken und zu entscheiden. Dass Religion und Glaube durchaus das Gegenteil fördern können, nämlich das Widerständige gegen äußere Autoritäten, dass gerade im Numinosen eine Leerstelle entstehen kann, die in die scheinbare Sicherheit einer von Logik und Vernunft durchtränkten Welt eine erfrischende Brise des Unverfügbaren wehen lässt, konnte sie nicht zugeben. Da war jegliche Debatte sinnlos. Dabei ist ihr zugute zu halten, dass sie ein feines Gespür dafür hatte, wie Angst und Kleinmut die Menschen umtreibt und eine Untertanenmentalität hervorruft, die auch im 21.Jahrundert nicht überwunden ist.
Ich bleibe also beim streitbaren Engel. Auch um sie noch ein bisschen zu ärgern, denn sie hätte vielleicht den Engel als Teil des göttlichen Personals abgetan und sich dagegen verwahrt, mit diesem etwas zu tun zu haben. Das wäre eine erfrischende Rauferei mit ihr geworden. Überhaupt: wenn man selbst sich frisch und rüstig fühlte, machte das Raufen mit ihr Spaß, eine gute Übung für ernsthafte Konflikte. Wenn man jedoch gerade etwas empfindlich war, dann war es klug, nicht unbedingt den Kontakt zu ihr zu suchen, denn vor irgendeiner Spitze ihrerseits konnte man nie sicher sein. Gerade in diesem Zusammenhang habe ich jedoch von ihr etwas Wichtiges gelernt, was mir schon oft geholfen und das Leben erleichtert hat: wenn sich jemand durch einen anderen Menschen gekränkt oder verletzt fühle, dann vor allem deswegen, weil er es selbst zulasse, sich kränken und verletzen zu lassen. Er könne also nicht nur den Anderen dafür verantwortlich machen, so in etwa ihre Worte. Mit dem Verstand können wir dies ohne Mühe nachvollziehen – und doch fällt es schwer, dies in der Begegnung mit Anderen immer umzusetzen. Rahel Mann war an diesem Punkt unter anderem von dem Denker geprägt, den sie neben LaoTse King am meisten schätzte: Martin Buber. In seiner Schrift „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ betont dieser, dass es für die Überwindung eines Konflikts mit einem anderen Menschen – oder sogar für die „Wandlung der Welt“ - einzig darauf ankomme, bei sich zu beginnen und sich in diesem Augenblick um nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern. Buber war Rahel Mann seit ihren Studientagen ein ständiger Begleiter.
Über den Tod sprach sie offen und unerschrocken, sie habe davor keine Angst, er gehöre zum Leben, und es sei wichtig, dass „die Alten“ sich nicht ans Leben klammerten, sie sollten vielmehr, wenn es so weit sei, klag- und geräuschlos Platz machen für die nachfolgenden Generationen. So sagte sie es bei vielen Gelegenheiten. Wenn wir ihrer gedenken, dann höre ich sie gleichsam aus der Ferne (oder gar nicht so fern) zu uns sprechen: „Klagt und jammert nicht, dass ich nicht mehr da bin, kümmert euch lieber darum, wie ihr jetzt ohne mich klarkommt.“ So in etwa wären wohl ihre Worte. Noch einmal könnte man ihr hier ein Schnippchen schlagen und ihr entgegnen: wir brauchen nicht ohne dich klarzukommen, denn du hast eine so kraftvolle Spur auf dem Boden dieser Erde hinterlassen, dass wir dich nicht nur nicht vergessen, sondern deine Anwesenheit stets spüren werden, auch in deiner Abwesenheit. Adieu, Rahel.