Alchemie des Lockdowns

Alchemie des Lockdowns | Irgendwann ist Feyerabend
von Stefan Blankertz

Die politische Macht der Wissenschaft


In der Corona-Pandemie stehen den Regierenden wie selbstverständlich Virologen – in einigen Staaten stattdessen Epidemiologen – zur Seite. Stehen sie zur Seite? Sie werden ihnen zur rechten Seite berufen, und das stellt gleich das erste Problem dar: Nach welchen Kriterien berufen die Regierenden den einen oder anderen Wissenschaftler? Dies kann nur ein politisches und kein wissenschaftliches Kriterium sein, denn »die« Wissenschaft gibt es nicht, es gibt Wissenschaftler, die – und dies ist Teil der Definition von Wissenschaft – unterschiedlicher Auffassung sind und mit- oder gar gegeneinander um Wissen (Erkenntnis) ringen. Neben unterschiedlichen Auffassungen innerhalb einer Wissenschaft gibt es darüber hinaus Wissenschaften, die einen je eigenen Blick auf den gleichen Gegenstand haben können, im Falle der Pandemie Virologen, Epidemiologen, Parasitologen, Infektologen, Hygieniker, Allgemein- und Intensivmediziner, Lungenfachärzte, Klinikmanagement, außerdem Ökonomen, Soziologen, Psychologen und Biologen. Unter diesen Fachgebieten treffen die Regierenden eine politische Auswahl, gerade weil es keinen Konsens zwischen den Wissenschaften gibt, nicht geben kann und nicht geben darf. Dennoch wird, sobald die politische Entscheidung für einen Wissenschaftler und sein Fachgebiet politische gefallen ist, die ganze kommunikative Anstrengung der herrschenden Meinung (Meinung der Herrschenden) darauf gerichtet, glauben zu machen, es gäbe nur eine wissenschaftlich korrekte Linie. Jede Abweichung ist heterodox, querulantig, fachlich unqualifiziert, böswillig verzerrend, selbst dann, wenn die wissenschaftlich korrekte Linie von Woche zu Woche per Kabinettsbeschluss geändert wird. Eine falsche Voraussage, ein Rechenfehler, eine unbedachte Äußerung aus dem Lager der Abweichler stempelt man zum Vergehen der ganzen, angeblich homogenen Gruppe, während umgekehrt skandalöse Äußerungen oder krasse Fehleinschätzungen aus dem Lager der Regierenden und ihrer Wissenschaftler höchstens als persönliches Missgeschick oder persönlicher Fehltritt Erwähnung finden, den man nicht pars pro toto auf die Protagonisten der korrekten Linie übertragen dürfe, aber oftmals völlig geleugnet werden.

Derweil fühlen die Abweichler sich zunehmend in die Ecke gedrängt oder gar verfolgt. In der Debatte bemühen beide Seiten krude historische Vergleiche. Die korrekte Linie stigmatisiert jeden Abweichler als »rechts«, als faschistische Gefahr für das Gemeinwesen. Einige Abweichler verfallen auf den ebenso schiefen Vergleich, indem sie sich in der Rolle der »Verfolgten im dritten Reich« darstellen. Hiermit machen sie es den Protagonisten der korrekten Linie leicht, jegliche Abweichungen von ihr zu delegitimieren. Sie lehnen sich erleichtert zurück und wähnen die Kuh von Eis. Zumal ja die offene Debatte erlaubt und keiner erschossen wird, obzwar in den Social Media der eine oder andere sich in Exekutionsphantasien ergeht. Bezeichnenderweise gilt dies dann weder als Hate Speech noch als Grund, die vereinzelte derartige Äußerung nun in die Verantwortung aller Protagonisten der korrekten Linie zu legen. Ganz anders im umgekehrten Fall: Alle Hasskommentare irgendwo werden jedem anderen Abweichler unter die Nase gerieben.

Die historischen Vergleiche sind deswegen schief, weil die Staatsgewalt heute nicht mehr mit unmittelbarer körperlicher Repression agiert, sondern geschickt wie noch nie zuvor das ökonomische Instrument einsetzt. Die Wissenschaft befindet sich fast vollständig in der Hand der Staatsgewalt, sie finanziert die Wissenschaft vollständig oder im Verein mit staatsnahen Unternehmen und zum größten Teil organisiert sie sie auch. Anzunehmen, dass die finanzielle Abhängigkeit keine Auswirkung auf die Wissenschaftler dahingehend habe, ihre Neigung zur Kritik an der Staatsgewalt zu bremsen, hieße, jede materialistische Soziologie (»das Sein bestimmt das Bewusstsein«) außen vor zu lassen. Einen Wissenschaftler oder eine Gruppe von Wissenschaftlern als Berater in direktem Umfeld der Staatsgewalt zu installieren, bedeutet, hier ein noch unmittelbareres Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen. Die dem durch »die« Wissenschaft verordneten Lockdown unterworfenen Firmen und Selbstständigen halten sich an die Regeln, weil die Staatsgewalt sie finanziell vernichten kann – sie halten allerdings nur so lange still, wie sie ihre materielle Versorgung einigermaßen aufrechterhalten sehen. Ein heikler Balanceakt für die Manger der Staatsgewalt. Zu spontanen Ausbrüchen von Gewalt außerhalb des Staats kommt es bisweilen bei den psychisch Gezeichneten, die nicht der Retroflektion, nicht der Depression verfallen.

Politisch gebrochene Macht der Wissenschaft


In Wirklichkeit fällt die Macht der Wissenschaft geringer aus, als es dem Augenschein entspricht. Der Wissenschaft wird zu viel zugetraut, wenn man meint, sie habe aus sich heraus die Macht, ohne Weiteres der Politik diktieren zu können, was zu tun sei. Die jeweils zur angeblichen oder tatsächlichen Eindämmung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen durchlaufen vor ihrer Verabschiedung und Verkündung einen politischen Prozess. Der wissenschaftliche Berater der Regierung kann nicht Beliebiges durchsetzen. An der Entscheidung sind neben ihm weitere Personen beteiligt, Politiker unterschiedlicher Parteien und unterschiedlicher Regionen sowie Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlich bedeutsamer Interessengruppen. Sie alle wollen sich profilieren, wiedergewählt werden, als Wahrer der Interessen ihrer eingeschriebenen Klientel (Wähler, Mitglieder) reüssieren.

Zudem muss die Maßnahme dem ökonomischen Kalkül der Machtrationalität unterworfen werden: Eine Maßnahme könnte die bestgeeignete Chance zur Eindämmung der Pandemie bieten, aber wenn die Bevölkerung, der sie auferlegt werden soll, sie nicht zu großen Teilen akzeptiert, und wenn zu viel Widerstand einer starken Minderheit zu erwarten ist, wäre es politisch unklug, sie zu verkünden. Das Ergebnis bestünde in einer Abwahl der Regierenden oder, wenn dies in zu weiter Ferne liegt bzw. gar nicht vorgesehen ist, in Umsturz. Natürlich ist das Kalkül, wie viel Widerstand sich brechen lässt, auch von der Bereitschaft zur Repression innerhalb derjenigen abhängig, die die Instrumente der Staatsgewalt derzeit bedienen. Sicherlich ist eine Diktatur meist besser in der Lage, mit Widerstand kurzfristig fertig zu werden (obwohl das Durchsetzbare in einer Diktatur ebenfalls eine Grenze hat, jenseits derer der Diktatur der Umsturz droht). Darum wäre das Paradies eines jeden als Politikberater tätigen Virologen, wenn er zum Hegemon, Imperator, Kaiser oder eben Diktator gekürt werden würde. Aber sogar dann würde er der spezifischen Ökonomie der Staatsgewalt unterliegen.
Die spezifische Ökonomie der Staatsgewalt legte Pierre Bourdieu in seiner Vortragsreihe über den Staat 1989 bis 1991 dar: Das Allgemeininteresse wird in Kommissionen durch das Aushandeln zwischen den gesellschaftlich relevanten, das heißt: mächtigen Interessengruppen ermittelt. Die Beteiligung von Interessengruppen am Prozess des Aushandelns richtet sich exklusiv nach ihrer Fähigkeit, sich als – wie man in der Pandemie sagt und nach ihr sagen wird – »systemrelevant« darzustellen. Oder genauerformuliert: Eine Nichtbeteiligung, ein Übergehen, ein Frustrieren dieser Interessengruppe würde gravierende Probleme in der Legitimierung und Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Form der Staatsgewalt nach sich ziehen. Wer eine solche Fähigkeit, die aktuell an der Regierung befindlichen Fraktion der herrschenden Klasse in ihrer Machtposition zu bedrohen, nicht darzustellen vermag, bleibt in der Tat unberücksichtigt und wird übergangen. Bourdieu nennt es einen »alchemistischen Vorgang«, durch den die Partikularinteressen vor dem Durchlaufen der Kommission sich nach deren Durchlaufen in das Allgemeininteresse verwandeln. Er warnt vor dem »Staatsdenken in der Soziologie«, dem die Soziologen dann erliegen, wenn sie die Behauptung der Staatsgewalt, das Allgemeininteresse zu vertreten, für bare Münze nehmen: Das Allgemeininteresse wird durch die Staatsgewalt erst hergestellt. Dass Bourdieu am Ende seines Lebens nach diesen gewaltigen Vorträgen selber dem Staatsdenken erlag, ist ein trauriger Kalauer der Wissenschaftsgeschichte. Plötzlich erklärte er ab Mitte der 1990er Jahre die Staatsgewalt zur tatsächlichen Trägerin des Allgemeininteresses, dem die »staatenlose Internationale« des Neoliberalismus böse zusetze. Die »staatenlose Internationale«, das ist das Äquivalent zur kaiserzeitlichen Rede von den »vaterlandslosen Gesellen«, die es wagten, Gott, Vaterland, Militär und Biedermeier vors Gericht des Humanismus zu zitieren. Es handelt sich bei der Unterstellung, eine »staatenlose Internationale« habe die Macht in zahlreichen Staaten der Erde zum Nachteil für Volk und Vaterland an sich gerissen, um eine krude Verschwörungstheorie, eines Soziologen unwürdig, die allerdings das Narrativ der herrschenden Meinung (Meinung der Herrschenden) bis heute bestimmt: Denn mit diesem Narrativ konnte die Staatsgewalt die Risse kitten, die ihrer Legitimität durch die Erschütterungen der Kritik der 1960er bis 1980er Jahre beigebracht wurden.

Wi(e)dergeburt der Herrschaftslegitimation


In den 1960er bis 1980er Jahren erschütterten Entwicklungen und Ansätze der Kritik die Legitimation der Herrschaft sowohl der Politik als auch der Wissenschaft tiefgreifend. Diese Erschütterungen gingen von zwei Quellen aus, einer materialen und einer ideellen Quelle, die sich gegenseitig speisten.
Auf der materialen Ebene empfanden die Menschen schmerzlich, dass die Versprechen der Wissenschaft und der durch sie geprägten Politik nicht einzuhalten waren. Trotz großer Erfolge in der Medizin gab es immer noch schreckliche Krankheiten, die einfach nicht zu besiegen waren, ja, die scheinbar oder wirklich zunahmen (wie beispielsweise Krebs). Die technische Machbarkeit und Beherrschbarkeit der Umwelt zeigte Nebenwirkungen, die Angst verbreiteten. Der Hunger in der Welt ließ sich nicht überwinden. Trotz Einrichtung der UNO wüteten weiterhin Kriege (wie beispielsweise der in Vietnam), der Kalte Krieg und das ihn begleitende atomare Wettrüsten bedrohten das Dasein der Menschheit. Dort, wo Frieden und Wohlstand herrschten, kam es zu psychischer Verelendung. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer brachten dies mit ihrem Titel »Dialektik der Aufklärung«(geschrieben 1944, in den 1960er Jahre kursierte das Buch zunächst nur als Raubdruck) auf den Begriff, der das Denken einer ganzen Generation von Intellektuellenprägte. Vor allem die sozioökonomisch privilegierte Jugend und ihre philosophischen Vordenker verloren das Vertrauen in Wissenschaft und Politik, setzten auf Nonkonformismus, auf die Selbstorganisation kleiner, freiwilliger Gruppen, auf ökologische Nischen. Man forderte, Abstand zu nehmen von wissenschaftlich-technischen Großprojekten sowie von der sozialtechnokratischen Steuerungs- und Kontrollillusion gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen. Von heute aus gesehen ist das »die 1968er Generation«, wobei in den USA der Protest deutlich früher eingesetzt hatte, oder sind es »die Kulturmarxisten«, obwohl in den USA bis Ende der 1960er Jahre der Anarchist Paul Goodman einen größeren Einfluss auf die Protestbewegung ausübte als der Kulturmarxist Herbert Marcuse. Die wenigsten, die heute den Begriff »Kulturmarxismus« pejorativ einsetzen, haben auch nur noch den Hauch einer Ahnung von den Nuancen dieser Ideengeschichte.

Die Enttäuschung über die nicht eingelösten wissenschaftlichen Versprechen von glücklich machender Naturbeherrschung sowie optimierter gesellschaftlicher Steuerung und Kontrolle schlug sich im ideellen Selbstbewusstsein der Wissenschaftler nieder. Die soziologische Kritik, eng mit Jürgen Habermas’ Slogan vom »Erkenntnisinteresse« (1965) verknüpft, zeigte auf, dass Wissenschaft eben kein interessen- und machtfreier Raum sei, was die Objektivität ihrer Erkenntnisse in Frage stellte. Die erkenntnistheoretische Kritik, die ihren Höhepunkt in Paul K. Feyerabends »Wider den Methodenzwang« (1975) fand, erklärte den Unterschied zwischen dem Wissenschaftler und dem Schamanen oder dem Astrologen für einen schlechten Witz. Der Konstruktivismus fragt seit Paul Watzlawick »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« (1976). Wenn Erkenntnis interessengeleitet (und nicht objektiv) ist, wenn die Methoden beliebig gewählt werden können, wenn die uns umgebende Wirklichkeit als konstruiert erscheint, wie um Gottes Willen soll man auf diesem sandigen Boden konkrete Maßnahmen der Staatsgewalt gründen?
Allerdings gelang es der Staatsgewalt erstaunlich gut, die Protestbewegung einzufangen. Das Instrument war damals im »Westen« nicht die körperliche Repression (die eher in Ausnahmefällen eingesetzt wurde), sondern das bereits erwähnte ökonomische Instrument: Die Träger des Protests kriegten Jobs in staatlichen oder staatsnahen Institutionen und ihre Projekte wurden mit Steuergeldern subventioniert. Zunehmend freundeten die ehemaligen Staatsfeinde sich mit der Gewalt des Staats an und erfuhren, wie bequem sie sich anbietet, um die eigenen Ideen gegen Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen.
Zur Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich eine weitere materiale Bedrohung für die Legitimität der Staatsgewalt vor diesem neuen Hintergrund. Um die Protestbewegung in die Staatsgewalt zu integrieren und um die übrigen, ungebremst fortgeführten Großprojekte finanzieren zu können, nahm die steuerliche Ausbeutung der produktiv Arbeitenden ein vernichtendes Ausmaß an. Gerade die USA, aber vermittelt über den Transmissionsriemen des Dollar als Leitwährung auch alle übrigen »westlichen« Staaten mussten zudem die ökonomischen Spätfolgen des Vietnamkriegs schultern.

Im Angesicht der Krise und des absehbaren Kollapses der Staatsfinanzen hörte die Politik auf eine Gruppe heterodoxer Ökonomen, die man heute unter dem Begriff »Neoliberale« zusammenfasst (obwohl heute kaum noch jemand, der den Begriff pejorativ einsetzt, überhaupt auch nur einen einzigen Namen zu nennen weiß), stellvertretend nenne ich die zwei ganz unterschiedlichen philosophischen und erkenntnistheoretischen Denkrichtungen entstammenden, in einer Reihe von aktuellen politisch-ökonomischen Fragen jedoch übereinstimmenden Nobelpreisträger F.A. Hayek (1974) und Milton Friedman (1976). Diesen Ökonomen ging es wie auch der Protestbewegung um eine Beendigung der Steuerungs- und Kontrollillusion sowie um Schonung der Ressourcen; Schonung der Ressourcen freilich ausgedrückt in Geldmitteln, etwas, wovon die Protagonisten der Protestbewegung nichts begriffen. Aber wie könnte man sich selbstverwaltete Strukturen vorstellen, ohne dass die dezentralen Akteure auch über die materielle Basis verfügen? Solange sie auf den zentralistischen Geldgeber der Staatskasse angewiesen sind, sind sie abhängig und nicht autonom. Die »spontane Ordnung«, die Hayek nicht nur den totalitären, sondern auch den technokratischen Planwirtschaften entgegensetzte, legt den Grundstein nicht nur für die Ökonomie, sondern auch für die Ökologie der Freiheit.
Die Politik lieh den Neoliberalen damals für kurze Zeit – bis Ende der 1980er Jahre war der Spuk vorbei – ein Ohr aus zwei Gründen. Zum einen wollte die Staatsgewalt die Kontrolle über ihre Finanzen wiedererlangen: Da alle Mittel der öffentlichen Haushalte fest verplant waren, wollten Politiker durch Einsparungen wieder Mittel als Manövriermasse freikriegen, die sie für neue Projekte und Aufgaben verwenden konnten; darum waren neoliberale Konzepte vorübergehend sogar bei sozialdemokratischen Regierungen beliebt. Zum anderen hatte auch eine handfeste neue Protestbewegungsich formiert, die die Begrenzung der Staatsgewalt forderte. Die Träger des Jugendprotests der 1960er Jahre stammten trotz ihrer Klassenkampf- und Proletariatsparolen aus der oberen Mittelschicht; sie verfügten über ein großes kulturelles und ein leidliches ökonomisches Kapital im Sinne Bourdieus. Ihr ökonomisches Kapital bezogen sie bzw. ihre Eltern allerdings fast durchgängig aus Mitteln der Staatsgewalt. Im neoliberalen Protest meldeten sich nun die Träger von geringem sowohl ökonomischem als auch kulturellem Kapital und die Träger von großem ökonomischem Kapital aus nichtstaatlichen Quellen zu Wort. Wer, für den Margaret Thatcher, die 1979 in England zur Premierministerin gewählt wurde, heute immer noch das rote (!) Tuch des Neoliberalismus verkörpert, hat im Blick, dass ihr Triumpf ohne die Unterstützung durch weite Teile der Arbeiterklasse unmöglich gewesen wäre, der Teile der Arbeiterklasse, die nicht mehr bereit waren, die Orgien der Staatsausgaben mit ihrer Hände Arbeit zu finanzieren, Orgien, an denen sie keinen Anteil hatten, die ihnen im Gegenteil oft eher schadeten? (Allerdings hieß die Eiserne Lady sie einen nationalistischen Krieg finanzieren, was ganz und gar nicht im Sinne einer »staatenlosen Internationale« ist.)
Der Erfolg des Neoliberalismus stabilisierte die Staatsgewalt auf hohem Niveau. Nach dieser Stabilisierung wurde er von der herrschenden Meinung (Meinung der Herrschenden) entsorgt und dient heute nur noch als Popanz. Aber der Popanz ist für die Legitimierung der Staatsgewalt nach wie vor ausgesprochen notwendig. Denn obwohl es tatsächlich kaum zu einem Abbau von Staatsgewalt im Zuge des Neoliberalismus kam (manche dem Neoliberalismus zugerechneten Politiker wie Ronald Reagan haben gar zu einem beispiellosen Staatswachstum beigetragen), herrscht das Gefühl eines solchen Abbaus vor. Und dies hat wiederum mit der spezifischen Ökonomie der Staatsgewalt zu tun.
Die Tätigkeit der Staatsgewalt, ihre Maßnahmen, sind wie gezeigt Ergebnis des Aushandelns zwischen jenen verschiedenen Interessengruppen, die das Privileg besitzen, am Prozess der Definition dessen, was Allgemeinwohl sei, teilhaben zu dürfen. Die Politik des Aushandelns gerät notwendig an zwei heikle Punkte:

1. Zum einen übt die Enteignung der Produktiven – das heißt die Steuererhebung – eine (negative) Wirkung auf die Produktivität aus. Das Ausmaß an Enteignung lässt sich nicht unbegrenzt steigern, um allen Begehrlichkeiten jeder Interessengruppe nachkommen zu können.

2. Zum anderen ist das ökonomische Kalkül, welchen Begehrlichkeiten nachzukommen sei, mit schweren Verlusten an Legitimation dort verbunden, wo Begehrlichkeiten abgewiesen werden oder sogar eine Verringerung der Zuwendungen droht.

Wenn es nun gelingt, diejenigen, deren Begehrlichkeiten abgewiesen wurden oder die eine Verringerung der Zuwendungen hinnehmen mussten, davon zu überzeugen, dass nicht die StaatsgewaltSchuld an dieser Situation ist, vielmehr die »staatenlose Internationale der Neoliberalen«, lässt der Verlust an Legitimation sich aufgefangen und umkehren in einen Motor für weitere Verstaatlichung, für weiteren Abbau der Räume von Selbstbestimmung und von Selbstorganisation. Das Narrativ der Bösartigkeit der neoliberalen Internationale und ihres weiterhin politikbestimmenden Einflusses ist demzufolge eine Funktion der Ideologie zur Herrschaftslegitimation.Dass die beiden auf Vergrößerung individueller und gruppenbezogener Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstorganisation gerichteten Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in feindlichen politischen und kulturellen Lagern verharrten, war ein großes Unglück für die Sache der menschlichen Emanzipation: Es war das Glück für die Staatsgewalt, die nach dem Motto des »teile und herrsche« verfuhr und fernerhin uneingeschränkt schalten und walten konnte. An Ideen und Aufrufen, dass die Antiautoritären sowohl im progressiven als auch im konservativen Lager zusammenfinden, hat es nicht gemangelt. Aber genauso, wie die Erben der Protestbewegung sich mit »Staatsknete« (so hieß das eine Zeitlang bei den Alternativen, die sich nicht korrumpieren lassen wollten) abspeisen ließen, gaben die Neoliberalen sich zufrieden mit staatlich überwachten und deformierten Privatisierungen und mit der Aufforderung an das Management von Behörden, Kliniken, Schulen usw., »wie Unternehmen zu handeln«. Aber diese Scheinprivatisierungen schufen Monster, die fortan weder durch den Markt (dessen Bedingungen sie aufgrund ihrer öffentlichen Finanzierung oder ihrer Monopolprivilegien nicht ausgesetzt sind) noch durch die Politik (der sie aufgrund ihrer scheinprivaten Verfasstheit nicht unterliegen) kontrolliert werden können. Seitdem geben die Erben der Protestbewegung »den Neoliberalen«, die Erben der Neoliberalen »den Kulturmarxisten« die Schuld an den Übeln der Gegenwart, während die Staatsgewalt von Kritik befreit agieren kann, wie es ihr beliebt.

Wi(e)dergeburt der Wissenschaftsgläubigkeit


Die Herrschaftslegitimation sah sich nun bis Ende des 20. Jahrhunderts wieder gesichert. Doch bedarf sie immer auch der Inhalte (Anlässe), mit denen die Maßnahmen der Staatsgewalt sich begründen lassen. Sofern die Religion diese Inhalte nicht liefert, eignet sich nichts so gut wie die Wissenschaft. Doch die Wissenschaft lag mit ihrer Autorität, bestimmen zu können, was dem Menschen – und gegebenenfalls auch der Umwelt – nutzt und frommt, ebenfalls am Boden. Die Ökologiebewegung setzte in den Anfangsjahren auf Dezentralisation und Netzwerkorganisation und nicht auf Maßnahmen der zentralen Staatsgewalt, der man wie der Wissenschaft misstraute.
Doch wie gezeigt bestand ein wesentliches Instrument der Staatsgewalt, die Protestbewegung zu integrieren, darin, sie finanziell zu alimentieren. In gleicher Weise verfuhr sie mit der Ökologiebewegung, in die die Protestbewegung überging. Das verlockende Angebot lautete, die Hebel und Mittel der Staatsgewalt nutzen zu dürfen, um ihre Ziele ohne die mühselige Überzeugung jedes Einzelnen durchzusetzen. Nun fiel die Wissenschaftskritik lästig. Statt eine plurale Wissenschaft anzunehmen, mussten die jeweils gewünschten Maßnahmen als einzig wissenschaftlich fundiert deklariert werden.

Ein wichtiger Schritt, um die Wissenschaft als Mittel der Herrschaftslegitimation wiederzugewinnen, fand in den Jahrzehnten vor der Corona-Pandemie in dem sich etablierenden Narrativ vom Klimawandel statt. Zunächst entstand es außerhalb der Staatsgewalt in der Ökologiebewegung beheimatet und richtete sich gegen die Wirkungen staatlicher Großprojekte und gegen die vom Staat seinen eigenen Betrieben (etwa der Infrastruktur zur Versorgung mit Strom, Wasser, Straßen usw.) sowie favorisierten industriellen Unternehmen eingeräumten kostenlosen oder kostengünstigen Verschmutzungsrechte. Doch dann geschah das gleiche wie einige Jahre zuvor mit der Protestbewegung: Die Staatsgewalt bemächtigte sich des Themas. Sie stellte ihre Forschungs- und Wissenschaftsinfrastruktur in den Dienst von Modellrechnungen, schwor ihr nahestehende industrielle Interessen darauf ein, den Klimawandel zu bekämpfen und »das Klima zu schützen« (eine verunglückte Formulierung). »Wandel«, zuvor ein positiv gemeinter Kampfbegriff, dem sich nur verstockte, ewig gestrige Konservative entgegenzustemmen trachteten, wurde zur Schreckensmeldung: Die ehemals Progressiven wandelten sich in Vorreiter des Konservativismus. Politisch verwandelte die Staatsgewalt das Thema Klimawandelt in eine Begründung für den Ausbau zentralstaatlicher Kontrolle und Steuerung des wirtschaftlichen und privaten Lebens. Es fand eine eigentümliche Koppelung statt, die sich ebenso in der gegenwärtigen Corona-Pandemie wiederfindet: Auf der einen Seite werden bestimmte Hypothesen von favorisierten Wissenschaftlern für einzig gültig erklärt, sodass alle anderen Hypothesen als unwissenschaftlich zu gelten haben. Auf der anderen Seite wird aus den Hypothesen die Notwendigkeit zentralstaatlichen Handelns wie eine logische Schlussfolgerung abgeleitet. Doch diese Ableitung ist rein fiktiv. Die Frage, ob Klimawandel stattfindet und gegebenenfalls menschengemacht ist, hat nichts zu tun damit, ob die Staatsgewalt nun den Betrieb von Dieselfahrzeugen verbietet, deren Anschaffung sie über Jahrzehnte subventionierte (weil der Dieselmotor als besonders Umwelt- und klimafreundlich galt). Wenn der Klimawandel als menschengemachter stattfindet, so findet er statt als Wirkung des Staatshandelns. Die Staatsgewalt aufzurufen, ihn zu bekämpfen, ist nicht logisch, nicht einmal plausibel. Doch die Koppelung der Hypothese an politisch notwendiges Handeln gehört zu den Grundfesten des Narrativs.

Ohne diese Koppelung wäre auch der Lockdown in der Corona-Pandemie nicht denkbar und nicht durchsetzbar. Aber irgendwann sei Feyerabend.

Der Autor


Stefan Blankertz, »Wortmetz«, Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.
Von ihm stammt die »Einladung zur Freiheit: Werkbuch libertäre Theorie und Praxis« (Edition g. 118).
Auf der Website editiongpunkt.de werden alle Bücher von ihm vorgestellt.

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von Stefan Blankertz

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