Alles andere: ungewiss
In einem Buchladen sah ich dieser Tage folgende Titel im Schaufenster nebeneinander liegen: „die Krankheit Wunder“ „kommen sehen“ „Plötzlich alles da“ „Der Körper kehrt wieder“ „Der Hund ist immer hungrig“ und „Alles andere: ungewiss“. Lyrikbände dieses Frühjahrs, des zweiten im pandemischen Ausnahmezustand.
Ungewiss und krank, verwundert und verwundet liegt auch der Stadtkörper da, zumindest noch Ende April bis weit in den Mai hinein. Beim Gehen auf vertrauten Wegen sticht mir etwas ins Herz. Hier ein Hotel, das nicht wieder öffnen wird, dort verhängte Scheiben eines Lokals, leergeräumte Läden, in denen einst Leben pulste. „Das kommt schon alles wieder“, tönt ein Chor. Sind es die Vernünftigen oder jene, die Angst haben vor dem Gefühl des Ungewissen? Und mein Gefühl? Was fühle ich mit dem Stich? Schmerz und Schwindel. Stille ist eingekehrt, aber nicht eine, die wohltuende Pause wäre, nicht eine des Innehaltens zum neuen Atemholen. Nein, sie ist verordnet. Todesstille. Wie in Becketts abgestorbener post-apokalyptischen Welt. Kein Murmeln und Schwatzen mehr aus Seminaren und Konferenzen, keine Bravorufe aus Theater und Konzerten, kein Schnalzen und Zwitschern von den Vernissagen, kein Räuspern und kein fachsimpelndes Geflüster aus Museen, kein Gebell aus Kneipen, nichts mehr, nur Stille. So durchdringend, dass alles starr wird, kurz vor dem Zerbrechen, als ob das Pflaster aus schwarzem Glas wäre. Der Stadtkörper atmet nur noch flach, kaum hörbar.
„Das kommt doch alles wieder“, schallt es mir nach. Ich denke an den Arzt, der meinen Großvater, nachdem die Großmutter gestorben war, fortwährend mit den Worten „Das Leben geht weiter“ beschwichtigen wollte. Nicht ums Trösten war es ihm, er wollte abwimmeln, nichts mehr hören von der Trauer, und mit seiner Phrase dem Großvater das Wort des Schmerzes abschneiden. Mein Großvater war gar nicht überzeugt, dass das Leben weiter ginge. Er hatte eine Taschenuhr, die er dauernd befingerte, so als hoffte er auf den Stillstand des Lebens, um den Arzt zu widerlegen. Aber die Uhr war auf der Seite des Arztes. Seltsame Uhr, wahrscheinlich vom Arzt bestochen. Und doch nützlich für den Großvater, der sich irgendwann davon stehlen konnte, wenn die Uhr es sagte. Plötzlich wird mir bewusst, welches Gefühl den Stichschmerz begleitet: Trauer. Es ist gut, wenn das Gefühl einen Namen hat. „Das kommt doch alles wieder“… Nein, Alles kommt nicht wieder. Manches wird für immer verschwunden sein, einiges wird so tun, als sei es nur kurz weggewesen und sich doch nicht gegen das Gift wehren können, das aus dem Riss der Gesellschaft strömt. Wieder anderes wird die Türen öffnen und abwarten und tasten im Ungewissen, auf der Lauer nach den Fragen, die keine Antwort bekommen. Was wird von den Beschädigungen der Seelen bleiben? Worum trauere ich? Um das Abgestorbene, das Verstummte? War es wirklich wichtig für mich? Vielleicht brauche ich all die vermissten Geräusche gar nicht. Vielleicht, aber mich hat niemand gefragt. Die Plötzlichkeit des Abbruchs hat einen Krater aufgerissen mitten auf der Straße – oder vielleicht in meinem Inneren? -, unüberbrückbare Kluft, die das vorher und nachher voneinander absondert. Ein Akt der Zerschneidung. Kraterrisse allüberall, durch Familien, Gemeinschaften und Herzen. Einige sehen den Krater nicht, sie laufen und tanzen über seinem Schlund. Warum fallen sie nicht? Ist der Krater nur meine Einbildung? Vielleicht. Oder ist es so, dass sie es sind, die sich etwas einbilden, nämlich hier oben zu tanzen, während sie in Wahrheit schon gefallen sind, aber einfach weitermachen, mit gebrochenen Gliedern, ohne darauf zu achten? Wer achtet heute noch auf sich, auf seine Versehrungen an Körper und Seele. „Es nützt ja nichts, darauf zu achten“…denn das Leben geht weiter. Mir hilft es, am Kraterrand zu sitzen und die Trauer zu spüren. Ich merke, dass ich nicht nur um das Verlorene von einst trauere, sondern um das, was nicht mehr kommen wird. Doch mit dem zarten Blick voraus, selbst wenn er jetzt noch verstellt ist, bröckelt auch die Mauer der Vergänglichkeit. Durch einen Mauerspalt winkt etwas, das ich Dauer nennen möchte. Die Trauer selbst ist es, die mich zur Dauer führt, denn sie stellt sich erst ein, wenn ich Verlust und Vergänglichkeit annehme, wenn ich Abschied nehmen kann von etwas. Danach beginnt vielleicht etwas Anderes – vertraut nicht jeder Beginn auf die Dauer? Ich könnte heimisch werden im Verlust, denn schließlich stirbt jeden Tag etwas in mir, und jeden Tag wächst neu etwas heran. Nichts kommt zurück, alles geschieht nur einmal. Alles andere ist ungewiss – außer der Vergänglichkeit.
Vergänglichkeit und spirituelle Krise
Wie gehen wir um mit der Vergänglichkeit? Ich hatte erwartet, dass dies zur Frage unserer Zeit würde. Doch sie wurde es nicht. Die Frage nach der Vergänglichkeit verbindet uns unweigerlich mit dem Spirituellen, und dass sie eher peripher aufgetaucht ist, bestätigt mich in meiner Wahrnehmung einer spirituellen Krise. Dazu habe ich mich schriftlich Anfang des Jahres geäußert. Manche fanden dies skurril oder verstörend, Erklärungen waren gefragt und sogar gefordert. Ich habe mich darum bemüht, es gab sogar eine Online-Konferenz dazu. Erst später, etwa drei Wochen danach, begegnete mir das Wort von der spirituellen Krise im Radio, und ich war erstaunt und neuerlich angeregt.
Die sich da geäußert hat, ist eine Philosophin von Profession: Olivia Mitscherlich-Schönherr. In ihrem Interview spricht sie von der „Grenzsituation und der Fraglichkeit unseres Menschseins“, denen wir in dem gegenwärtigen Ausnahmezustand begegnen. Ich höre das Fragile im Wort Fraglich. Die Fragilität der Frage, von Antwort gar nicht zu sprechen. Wenn ich sage „zerbrechlich“, klingt es wie eine Warnung vor den Folgen zu ruppiger Behandlung: die Kiste bitte nicht werfen, sie enthält Zerbrechliches. Es wird zur Vorsicht gemahnt, die vorausschauend sein soll, doch der Mensch ist befähigt, wenn er es denn möchte, in alle Richtungen sich umzuschauen, und so ist die Vorsicht aufs engste verwandt mit der Rücksicht und der Umsicht. Warnung vor dem einseitigen Blick – sei es einseitig nach vorn, zurück oder nach unten. Ein solcher Blick ließe den Rest außer Acht, und auf den Rest kommt es an. Die Philosophin sagt es so: wie erleben zur Zeit eine ausschließlich naturalistische Deutung der Dinge, wo nur noch Raum findet, was sich bemessen lässt. Stimmungen und Atmosphären lassen sich nicht bemessen. Sind sie der Rest? Das Zerbrechliche lässt sich jedenfalls schwer bemessen, wir wissen nicht, wann es bricht, und was noch übrig bleiben könnte nach dem Bruch - was sogar an Neuem entstehen mag. Das Fragile ist verwundbar und zart, aber nicht kraftlos, nur die Bemessung fällt schwer.
Mitscherlich spricht von der Möglichkeit eines „guten Lebens mit Corona statt immer nur die Luft anzuhalten“. Die spirituelle Krise hatte auch ich als eine Krise des Atmens (lat.spirare) bezeichnet, des Durchatmens und tief Luftholens. Doch schon höre ich irgendwo den Chor, der auf „das gute Leben mit Corona“ den Ruf „Menschenverachtung“ erschallen lässt. Er wird schriller, falls seine Mitglieder, die Rufer und Sänger, weiter lesen sollten, was sie sich vielleicht aus Wut versagen werden. Leben, so heißt es, sei „mehr als biologisches Überleben, nicht nur Hinauszögern des Todes“. Wie wird dieser Satz ausgelegt – heute in Zeiten der Pandemie? Werden diese Worte noch als philosophische oder besser spirituelle gelesen? Oder wird der Satz zum Tweet gedreht, als Parteinahme, die unheiligen Zorn auslöst? Und wenn, worin besteht der Humus dieses Zorns? Der Satz nimmt keine Stellung für oder gegen bestimmte Maßnahmen. Er weist auf eine Dimension des Lebens, die in der Hitze der Wut und Aggression verschüttet wird. Woher der Humus dieser Hitze und Wut? Das ist eine der Fragen, die nach dem Ende der Pandemie uns weiter beschäftigen werden. Vor der Pandemie hätte wohl die Mehrheit der Menschen dem Satz zugestimmt, doch weniger aus Neigung zur Spiritualität. Vielmehr war die Frage nach dem Leben intellektuell verlockend, als Appetitanreger zum Klug-Sprechen auf Seminaren und Podiumsdiskussionen geeignet, während die des Überlebens eher abstrakt erschien. Jetzt hat der Satz eine andere Bedeutung gewonnen. Ist er darum entwertet, durchzustreichen, ungültig? Oder deutet sich im Zorn eben jene spirituelle Krise an, von der die Rede ist? Nur auf verdrehte Weise? Denn dieser Satz kann nur dann zornlos gelesen werden, wenn gerade in der Pandemie die spirituelle Dimension des Lebens mitgedacht wird: die Würde, die Berührbarkeit im Fragilen, auch das Widerständige des Lebens, das sich in der Dauer manifestiert. Wie immer diese spürbar sein mag.
Was ist der Humus des Zorns? Ein von starken Gefühlen getränkter Boden, auf dem sich Anhänger der verschiedenen „Lager“ duellieren, nachdem es nur noch um eins zu gehen scheint: „Leben retten um jeden Preis“. Was wenn der Preis dafür das Leben ist? Wenn wir Selbstmord begehen um das Leben zu retten? Diese Aporie ist inzwischen mehrfach beschrieben worden. So werden die einen, die sagen „Wir wollen den Tod annehmen als Teil des Lebens“, rasch unter den Generalverdacht mörderischer Absichten gestellt. Und wenn die Anderen rufen „Wir wollen uns gegen den Tod auflehnen als dem großen Skandalon und jeden Todesfall verhindern“, dann wird ihnen entgegengehalten, dieses unmögliche Unterfangen nur vorzuschieben, um uns die Freiheit und die Grundrechte zu nehmen. In weniger von Hitzewallungen überkochenden Zeiten würde man sagen: Zwei Sätze, in denen Rebellion und Trost anklingen, und Rebellion gegen den Trost, ihn als billig und billigend verspottend. Zwei Sätze, in denen Gelassenheit und Geschäftigkeit hörbar werden, Ergebung in Stille oder Heiterkeit, trommelndes Hadern und beherztes Organisieren des Notwendigen. Die Liste könnte fortgeführt werden. Und all dies darf sein. Wer zwingt uns in den Schraubstock des Entweder-Oder? Vielleicht können beide Seiten etwas mit dem anfangen, was noch folgt von der Philosophin:
„Wenn wir ernst nehmen, dass unser Menschsein unergründlich ist, genauso wie auch Gott unergründlich ist…“ Wenn, ja was dann? Dann würden wir einander ganz anders beistehen, so meint sie es - wir, die wir so wenig wissen, die wir fragil sind und immer über dem Abgrund balancieren. Worauf verweisen Fragilität und Balance? Vielleicht auf das, was jenseits des Bemessbaren und Verfügbaren liegt. Aber warum der Tod? Ist er nicht geradezu Inbegriff und Scheitelpunkt der Unverfügbarkeit?
Unverfügbarkeit
Das Ansinnen ständiger Verfügbarkeit von Gegenständen, Atmosphären, Lösungsvorschlägen und ihrer Umsetzung, die Verfügbarkeit von Zeit, Befriedigung, Unterhaltung, Exotik und Erotik bis hin zu gutem Wetter scheint Zeichen unserer Zeit zu sein. Das Verfügenkönnen verspricht Sicherheit und wirkt beruhigend, doch zugleich kann es einengen, zwingen, entmündigen. Die Vorstellung, dass Alles nach computergesteuerten Modellen und Prognosen planbar und berechenbar sei, nimmt uns den Atem des Kreativen, entkernt den Menschen vom Menschlichen, bis er selbst in die Welt der Kalkulation passt. Hier winkt das Unverfügbare mit großer Lust als das Unbekannte, vielleicht sogar das Unbenannte und womöglich Unnennbare. Was alles ist unverfügbar? Engel, Tod, Mondkälber, Gott, Gedichte, Seelenknistern, Verschmelzung, Entrückung, Sternschnuppen auf der Haut, nicht schmelzendes Eis, Echoklang, Seerosen auf Bildern, Liebe und Unversehrtheit und vieles mehr……
Der Soziologe Hartmut Rosa hat eine Studie zur Unverfügbarkeit vorgelegt. Je mehr wir uns die Welt verfügbar gemacht hätten, so sein Resümee, desto mehr habe sie sich gleichzeitig uns entzogen. Das Bestreben der Moderne, unsere Reichweite in Bezug auf die Welt immer mehr zu erweitern, habe paradoxe Nebeneffekte gezeitigt,
„die sich mit Marx als Entfremdung statt Anverwandlung, mit Adorno und Lukács als Verdinglichung statt Verlebendigung, mit Arendt als Weltverlust statt Weltgewinn, mit Blumenberg als Unlesbarkeit der Welt statt Verstehbarkeit und mit Weber als Entzauberung statt Beseelung beschreiben lassen. Die Moderne steht in der Gefahr, die Welt nicht mehr zu hören und sich eben auch darum selbst nicht mehr zu spüren….sie ist unfähig geworden, sich anrufen und erreichen zu lassen….“
Aus der Negation des Lebendigen leuchtet der Glanz des Unverfügbaren hervor: die Verlebendigung, die Beseelung, die Anverwandlung. Ergänzend kommen noch als Namen die Berührung und die Resonanz hinzu, von denen Rosa im Weiteren sprechen wird. Die Resonanz bündelt wie ein Oberbegriff alles Andere – und bringt zur Sprache, was Spiritualität besagt.
„Resonanz lässt sich weder sicher erzwingen noch garantiert verhindern“, sagt Rosa.
Eine fast augenzwinkernde Tollheit, dass es keine Garantie gäbe, Resonanz zu verhindern. Da keimt sie wieder auf, die Lust am Ungewissen in Gestalt des Unverfügbaren. Selbst unter entfremdeten Umständen also, mitten in einer monotonen Tätigkeit, die mich schon fast taub gemacht hat für etwaige Empfindungen, sollte es durch ein bestimmtes Licht, eine Musik oder eine Stimme gelingen, die Erfahrung der Resonanz zu machen? Es gibt sogar noch die Unverfügbarkeit im Unverfügbaren: kommt es, sozusagen unkontrolliert und gegen die Regeln, zur Resonanzerfahrung, nennen wir sie nun Anverwandlung oder Berührung, ist die „Richtung“ dieser Bewegung vollkommen offen und wiederum unverfügbar:
„Weil Resonanz konstitutiv ergebnisoffen ist, steht sie in einem grundlegenden Konflikt zur sozialen Logik und der unablässigen Steigerung und Optimierung.“
Ungeduldige Menschen halten diesen Konflikt nicht gut aus. Das Ungewisse des Unverfügbaren kann als Leere erscheinen, da alles in der Schwebe ist, sozusagen ein großes Innehalten, wo äußerlich nichts sich ereignet. Die Antwort auf die Leere ist oft der induzierte Rausch, die Suche nach dem Exzess, was paradoxerweise auch eine Form ist die Kontrolle abzugeben, wenn auch nur kurz. Aushalten des Ungewissen ohne Antwort, Innehalten über Tage und vielleicht Wochen, ein Strudeln und Rudern darin, ohne unterzugehen aber auch ohne festen Boden, sozusagen ein längeres Warten im Bewusstsein, dass ich nicht erzwingen kann, dessen ich bedürftig bin, das ist die Durststrecke des Unverfügbaren. Auch die Sprache ist zuweilen unverfügbar. So habe ich zum Beispiel lange mit diesem Text gehadert. Soll ich ihn schreiben? Was will ich sagen? Vor allem aber wie will ich es sagen? Selten hatte ich den unzertrennlichen Zusammenhang zwischen dem Was und dem Wie des zu Schreibenden so lähmend gespürt wie beim Verfassen dieser Zeilen. Mit jedem sich zeigenden, aus dem Nebel auftauchenden Aspekt des Was, wurde ich wieder hinaus geworfen auf das Meer der offenen Fragen nach dem Wie. Ich beobachtete zunehmend meine Abneigung gegen affirmative Sätze, selbst die vermeintlichen, auf jeden Fall die im Gewand des Harmlosen daher schlendernden indikativischen. Jene, die doch immer nur wieder und wieder so etwas wie eine Lehre hinter sich her schleppen, die der Leser oder die Leserin schön buchstabieren oder besser noch auswendig lernen sollten, auf dass sie und die Welt im allgemeinen eine bessere oder klügere werde – wobei klug und gut zuweilen auch noch unter Aufbietung eines gefrorenem Lächelns miteinander gleichgesetzt wird. Das Allgemeine in klugen Büchern über das Allgemeine (die Gesellschaft) verwischt meist das Besondere, die besonderen Erfahrungen, Begegnungen und Berührungen der Schreibenden, aus denen sich eine Fragestellung oder Sichtweise auf Themen erst herleiten lässt. Das Besondere zu benennen gilt zuweilen als grob unwissenschaftlich und in einem „wissensbasierten Diskurs“ schnell als anstößig. Dem Leser und der Leserin werden oft fertige Anleitungen zum „Sehen und Einordnen“ vorgelegt, bis hin zu der Schwemme der sogenannten Ratgeberliteratur. Nun sind auch dies affirmative Sätze, aber es geht ja nicht um Dogma und Verbot. Vielmehr bewege ich mich bei den hier angesprochenen Themen Vergänglichkeit, Tod, Ungewisses und Unverfügbares auf rutschigem Boden – jede persönliche Sicht auf diese Themen ist wahr, weil die Themen nicht unpersönlich sind. Also kann ich nur von mir aus schreiben, was zur nächsten Befangenheit führt, wie viel ich von mir selbst in diesen Zeilen preisgeben möchte – eine Frage, die ihrerseits nicht nur ästhetisch von Belang ist, sondern die hinein führt in die heiklen Gefühlswelten von Eitelkeit und Scham. Begleitet wird diese schon genügend komplexe Gefühlslage von dem beklemmenden Eindruck, schon einmal mehr gewusst zu haben und überhaupt doch nur zu schreiben, was vor mir schon unzählige Autorinnen unzählige Male unermesslich viel besser zu Papier gebracht haben. Dann kommt dieses Schwanken oder Schaukeln hinzu, eine Form der Seekrankheit aufgrund der verschwimmenden Zeilen und Buchstaben vor den Augen, ein ängstliches Schwanken zwischen zwei gleichermaßen unbehaglichen Formen des Wie, dem Konstruierten und dem Fragmentarischen, deren jede ich penibel zu vermeiden suche. Was hält mich also noch hier in diesem Text? Es ist ein gewisser Kitzel in der Nase, einem etwas auf der Spur zu sein, ähnlich wie es einem Pilzsammler geht. Auch Pilze sind schöne Kandidaten des Unverfügbaren. Es ist also der Reiz, den das Unverfügbare verströmen kann, der eine zuweilen lange Durststrecke des Ungewissen aushalten lässt. Der Reiz war zunächst nur schwach spürbar, und auch nicht ständig. Um ihm zur allmählichen Entfaltung zu verhelfen, bedurfte ich einer anderen Stimmung als dem Schwanken zwischen Lähmung und Unruhe, das die Trauer um die Zukunft begleitete. Allein dass es Unruhe gab, erscheint mir wichtig, so als ob ein innerer Geigerzähler mir durch seine Vibration sagen wollte, das da bald etwas käme. Zuweilen verringerte sich die Frequenz der Vibration, um einer sich ausbreitenden wohligen Ruhe Platz zu machen, sei es nach einem guten Gespräch, erholsamem Schlaf oder dem ausgiebigen Betrachten der Schafe im Park. Mit der Ruhe meldete sich eine andere, innere Stimme, die immer wieder bekräftigte, es sei mir und der Welt zu vertrauen. Ein Gespür für die Fort-Dauer kam auf. In diesen Lagen kündigte sich dann der Kitzel in der Nase an und die ungewisse Gewissheit, etwas aufzuspüren, was sozusagen hinter der Endlichkeit mir zuwinken würde. Das Unverfügbare und Ungewisse verloren in solchen Momenten ihren beklemmenden Zug und schienen eher etwas verheißen zu wollen. Leichtfüßig, fast barfuß gesagt: wenn ohnehin alles endlich ist, lass die übermäßigen Bedrängnisse fahren, du wirst sie doch nicht alle erfüllen, übe dich besser im Sein-Lassen. Das war die leichthinnige Grundmelodie, die ich zuweilen spürte bei der Beschäftigung mit der Endlichkeit, der ich aber noch keinen Ausdruck geben mochte oder konnte. Sie führte mich aber zu den Pilzen, die auf der anderen Seite der Böschung oder der Endlichkeit mich schon andufteten, ohne dass ich wusste, wer da woher duftet. Was diesen Text betrifft, wusste ich nur eines: alles auf Anfang. Und der hatte gar nicht den Namen Ungewisses, Unverfügbares, sondern die Grenze und das Offene. Doch noch war dieses Offene mir mehr als verschlossen, obwohl ich vor seinen Toren auf und ab gewandert war und sogar glaubte, mehrfach schon hinüber gewechselt zu sein.
Alles auf Anfang: die Grenze und das Offene
„Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene“, so steht es in der achten der Duineser Elegien von Rilke. Eine bemerkenswerte Auslegung dieses ebenso bemerkenswerten Gedichtzyklus hat der Philosoph Romano Guardini vor mehr als 70 Jahren vorgelegt:
„Das Offene ist nicht ein leerer Raum um das All, oder ein Fluidum, in welchem die Welt schwimmt, sondern die Tatsache, dass das Seiende endlich ist, Grenze hat…“
Das Endliche als Voraussetzung für das Offene – eine zugleich anziehende und rätselhafte Behauptung, wobei das Rätsel zunächst ganz einfach durch die logische Operation sich fortzaubern ließe, wonach der Raum, in dem sich das Offene manifestiert, nur als solcher wahrgenommen werden kann, wenn er äußerlich wie nach innen Grenzen hat. Die Tragweite, die jener Satz jenseits der Logik eröffnet, wurde mir erst im Laufe eines persönlichen Gesprächs zur Frage der Endlichkeit bewusst, von dem weiter unten zu sprechen sein wird. Zunächst galt meine Aufmerksamkeit der Grenze selbst. Ich las Guardinis Umkreisen des Themas Grenze wie den Ruf, auf den Hartmut Rosas Essay zur Unverfügbarkeit wie ein Echo antwortet. Wenn dieser beklagt, dass die Moderne die Welt nicht mehr hört, weil sie alles der planbaren und berechenbaren Verfügbarkeit unterordnet, so entwickelt Guardini seinen Gedankengang wie folgt:
Es gäbe die relative Grenze wie die Haut, die Rinde, die Schuppen. Wo diese aufhörten, beginne etwas Anderes – Luft, Wasser oder benachbarte Gegenstände. Davon zu unterscheiden sei die absolute Grenze:
„die Grenze schlechthin, welche mit der Endlichkeit als solcher identisch ist.“
Jenseits dieser Grenze fände sich „das Einfachhin-Andere, Gott; oder vorsichtiger gesagt die Schöpfermacht Gottes“.
Der Umgang mit den jeweiligen Grenzen unterscheidet sich nach Guardini folgendermaßen: Im ersten Fall fasse der Mensch beim Überschreiten der Grenze Gegenstände ins Auge, die er prüfen, bewerten, gestalten, also sich verfügbar machen wolle. Im zweiten Fall, der absoluten Grenze, ginge es nicht darum, etwas „hinter der Grenze“ zu beurteilen, zu greifen und zu wollen, sondern einfach das „Dasein zu vollziehen“. Anschaulich hat Guardini den Unterschied zwischen beiden Formen der Grenzbegegnung im weiteren Verlauf auch als zwei verschiedene Formen des Wissens beschrieben, wobei es
„…das Wissen des Gegenüberstehens gibt, welches beobachtet, prüft, beurteilt, durcharbeitet; aber auch das des lebendigen Inneseins, welches die eigene Lebensbewegung in das Zu-Wissende hineinwirft und dessen Dasein mitvollzieht. Dieses Wissen ist hier (beim Überschreiten der absoluten Grenze, F.H.) gemeint und in eine Linie mit dem Atmen gestellt. Dass man atmet und eben darin die Bewegung des Daseins sich verwirklicht, weiß man in der Form des Inneseins. ….Es weiß in schlechthinniger Klarheit und Durchdringung, in Innigkeit, und ist nur möglich, wenn man nicht begehrt“
Die Gegenüberstellung von Begehren und Vollziehen erscheint mir unglücklich, kann man doch das leiblich-sinnliche Begehren gerade als Ausdruck des „Vollzugs der Lebensbewegung“ ansehen. Begehren wäre fein zu unterscheiden von Verfügen. Und was eigentlich meint vollziehen? Das Wort verrät zu viel des aktiven Tuns, während es doch um das Geschehen-Lassen des Lebens geht, um das – um es altertümlich zu sagen – Schicksalhafte oder das sich Schickende oder Fügende. Dies wiederum scheint zu einem Übergewicht des rein Passiven zu neigen, da sind dann der Fatalismus oder eine Haltung bequemlicher Ergebenheit nicht weit. Wie wäre es damit, in schön heraklitischer Befindlichkeit in den Strom des Lebens zu steigen und abwechselnd zu schwimmen und sich treiben zu lassen? Nun spricht Guardini hier nicht vom Wasser, sondern von der Luft, indem er das Atmen in den Vordergrund stellt.
Atmen und Vollziehen – zusammen ein schönes Wortpaar für die Benennung von Spiritualität. Das Universum atmet, es tut dies ohne uns, aber wir atmen schon immer mit, und dieses „mit“ nehmen wir zu selten wahr, wir spüren oder denken es zu wenig. Mit-Atmen – Zug um Zug, einatmen, ausatmen, jeder Zug ein Seufzer, ein Ziehen, ein Stöhnen, ein Auftamen, eine Zufuhr von Frische. Lebensvollzug ist keine Strafmaßnahme, sondern ein Atmen, Zug um Zug mit der lebendigen Kreatur, den Bäumen und Blumen, den Schafen auf der Weide. Und was ist mit den Mitmenschen? Hier wird es oft knifflig. Deren Atem ist selten rein, er riecht manchmal nach dem, wovon ich nichts wissen will. Der Atem des Anderen geht schwer, ich fühle mich belästigt, gilt das Gekeuche mir? Kann er das nicht woanders machen? Und ich? Wie atme ich, wenn ich aus der Puste bin? Ich puste ihm was, der mir gegenüber hustet und röchelt. Keine schöne Gemeinschaft, die rasselnd, röchelnd, schnaufend, stinkend Atmenden. Und doch ist es das Erste, das uns verbindet. Hauch, Geist – pneuma, brahman, ruach…Der erste Buchstabe der heiligen Sprache, das Aleph, gibt keinen Laut von sich außer dem Laut des Atmens, phonetisch ein Anhauch. Hauch und Geist und Atem verbindet uns, ungefragt, einfach so. Gehen wir mit dem Puls, hören wir auf unser Herz, werfen wir uns in den Luftstrom des gemeinsamen Atems….. er schmerzt nicht, sticht und schneidet nicht, fließt vorbei und doch durch uns hindurch.
Jeder Mensch ist berührbar, das verbindet uns. Doch berührbar heißt auch verletzbar, und schon kommen die Stiche und die Schnitte ins Spiel, die wir uns zufügen, dabei heftig atmend. Sollen wir auch sie mit-vollziehen? Menschen tun dies jeden Tag, indem sie entweder ebenfalls zustechen oder ausweichen. Es gäbe eine weitere Form des Mit-Vollziehens, dort wo Verletzungen geschehen: die Verletzung des Anderen genauso spüren wie die eigene, um darüber Zug um Zug aus dem Kreiseln der zugefügten Schmerzen auszuscheren, sich anders berührend, jenseits der „Sache“ oder des „Sächlichen“, um die Wunde, die Trauer, die Zartheit, die Atemnot, die Beklemmung, das ängstliche Tasten des Anderen mit vollziehen können. Zuweilen steigt daraus der Atem neu auf, neuer Atem des Zutrauens, der es gut mit uns meint. Freilich: für diesen Fall bedarf es beider Beteiligter und ihres Mutes, Zug um Zug zu spüren, zu hören, zu schauen. Seltenes Ereignis, aber es geschieht. Wir werden noch daran denken. Ich selbst erlebe es in diesen Zeiten, selten auch, aber immerhin. Wertvolle Seltenheit, kostbarer Lichtblick für die Ohren, Atemklang für die Augen.
Guardinis Unterscheidung der Arten von Grenzen erscheint mir hilfreich. Jede Begegnung zwischen Menschen ist eine Begegnung an der Grenze. Diese kann ihre Unversehrtheit auf beiden Seiten bewahren, oder nach einem Übertritt wieder unversehrt in ihre Form finden. Doch die Gefahr ist groß, dass beim Ausgreifen auf die andere Seite der Grenze jenes Prüfen, Beurteilen, Verfügenwollen geschieht, von dem Guardini spricht, und das die vielfältigen Gewalterfahrungen der Menschen ausmacht. Umso bemerkenswerter empfinde ich das Bild für den Raum jenseits jener „anderen Grenze“, hinter der keine Gegenstände mehr sich finden: „lebendiges Innesein“ und „Mitvollzug des Daseins“. Gleichzeitig schwingt in diesen Worten, sobald sie über das Dasein und das Leben der Natur hinausgehen und das menschliche Miteinander meinen, ein rührend unschuldiger Ton mit, den manche vielleicht als naiv und lebensfremd empfinden mögen. Die Stiche und Schnitte jedenfalls sollten nicht unterschlagen werden.
Doch die Worte vom Innesein und vom Atmen sind mir gerade und ausdrücklich im Zusammenhang mit dem „Zwischenmenschlichen“ schon einmal begegnet, und zwar bei Martin Buber, dem die Worte vom gemeinsamen Atemraum des Menschen und vom Innewerden wesentliche Namen für das Zwischenmenschliche sind. Wenn sich Menschen begegnen, dann, so Buber, könne dies auf drei verschiedene Arten geschehen: sie beobachten oder sie betrachten einander, oder sie werden einander inne. Der Beobachter notiere den Anderen und belauere seine Züge. Der Betrachter sei zwar gelassener, dennoch gilt für beide, dass ihr Gegenüber ein „abgetrennter Gegenstand“ bleibe, mit dem sie nichts zu tun hätten, der sie und ihr Leben nicht beträfe. Der Mensch, dem sie begegnen, wäre also im Sinne Guardinis ein Objekt, das geprüft, analysiert und verfügbar gemacht werde. Wenn jedoch der Mensch des Anderen inne werde, sei dieser kein Gegenstand mehr, der beschrieben oder abgemalt werden könne, sondern im Innewerden „bekomme ich es direkt mit ihm zu tun“. Da öffne sich ein gemeinsamer „Atemraum der Treue“. Wie dieser erfahren werden könne, legt Buber an anderer Stelle dar, wo es um das Gespräch geht. Dies könne niemals als ein echtes empfunden werden, solange die Gesprächspartner hauptsächlich an der Wirkung als Sprecher und des von ihnen zu Sprechenden achteten. Dies wirke zerstörend auf das Gespräch, welches dadurch „fehlbehaftet“ werde. Und dann:
„Wo aber das Gespräch sich in seinem Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die sich einander in Wahrheit zugewandt haben, sich rückhaltlos äußern und vom Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich einstellende gemeinschaftliche Fruchtbarkeit. Das Wort entsteht Mal um Mal substantiell zwischen den Menschen, die von der Dynamik eines elementaren Zusammenseins in ihrer Tiefe ergriffen und erschlossen werden. Das Zwischenmenschliche erschließt das sonst Unerschlossene.“
Fragmentarisch und Unabgeschlossen: das Endliche
Das Wort Erschließen oszilliert auf besondere Weise zwischen Öffnung und Schließung. Wenn ich aufmerksam dem Oszillieren gegenüber bin, kann ich der fatalen Versuchung widerstehen, das Unerschlossene zur Gänze erschließen zu wollen. So bewahrt es auch seine Unabgeschlossenheit. Beide, das Unerschlossene und das Unabgeschlossene, ergänzen und durchdringen sich, beide stehen unter dem Eindruck des Noch-Nicht, einmal hinsichtlich des Beginnens, ein andermal des Vollendens. Das Noch-Nicht seinerseits leitet auf die Spur des Offenen hin.
Wie um das „sonst“ in Bubers Satz an einem Beispiel zu demonstrieren, erscheint mir im Nachgang das schon angesprochene Gespräch zur Frage der Endlichkeit geeignet. Sonst nämlich, ohne dieses Gespräch, wäre mir vermutlich der oben erwähnte Satz Guardinis („das Offene ist die Tatsache, dass das Seiende eine Grenze hat, endlich ist“) weiter unerschlossen geblieben. In dem Gespräch erzählte mir ein Freund, Mitte Siebzig und bei durchschnittlicher Gesundheit, von der Erleichterung, die er beim Gedanken an die Endlichkeit empfinde. Ich glaubte ihn sofort zu verstehen, und zugleich wollte ich den Schleier des Rätselhaften um seine Worte mir noch etwas bewahren, ihn nicht zu früh lüften. Der Druck, ja beinah Zwang, so sprach er, noch etwas zum Abschluss zu bringen, laste irgendwie fortwährend auf einem. Bestimmte Dinge müssten noch geregelt werden, so waren seine Worte. Er meinte damit nicht den Gang zum Notar und die Festlegung einer Erbfolge, sondern es ging ihm darum, den Fragen oder der einen Frage, die ihn umtreibe, nicht länger die Antwort schuldig zu bleiben. Etwas zu hinterlassen, die Lösung eines großen Rätsels oder den letzten Schliff an der Politur des Werkes, das ihn seit langem wachhalte. Doch dieselbe Endlichkeit, die ihn dränge und treibe, schaffe auch die Erleichterung. Ich wollte Genaueres wissen. Ich erinnere nicht den Wortlaut seiner Antwort. Dieser ist auch nicht wichtig, denn in diesem Moment nahm ich den Faden auf, den wir dann beide gemeinsam weiter spannen. Es könnten in etwa folgende Worte gefallen sein: wenn Alles endlich ist, dann ist die Vorstellung der vollendeten Voll-endung chimärisch, denn schließlich ende vieles vor seiner Vollendung. Wir begannen, die Aromen abzuschmecken, die das Wort Endlichkeit umgeben: Grenze, Abbruch, Umriss, Abschnitt, Verschleiß, Fadenriss, Kugel, Abschluss, Ruhepol, Equilibrium…wir hätten die Reihe fortsetzen können. Etwas jedoch zeigt sich schon in dieser kurzen Aufzählung : das Nebeneinander des Vollendeten (wie im Abschluss) und des Fragmentarischen und Unabgeschlossenen. Und hier wurzelt die Erleichterung des Freundes: es wird stets etwas unabgeschlossen bleiben, so sehr ich mich auch anstrengen mag. Das Endliche selbst steht dafür, dass vieles vor seiner Vollendung sein Ende findet – als Fragment eben. Das vermindert den Druck-Zwang, der aus der Vorstellung der optimalen Leistung entsteht, mit der das perfekte, vollendete, nicht mehr zu überbietende Ergebnis zustande kommen mag. Die Endlichkeit widerspricht der Vorstellung der Totalität von Maximum und Optimum. Der Freund tänzelte nun leicht schelmisch weiter, indem er heiter bekundete, er könne vielleicht gar nicht vollenden, was er sich vorstelle. Das sei es, was ihn erleichtere. Er könne etwas auf den Weg bringen, ihm einen Schwung geben, einen Stups, dass die Bewegung nicht erlahme, und dann würden die Kommenden den Ball schon fangen, der nicht den Boden berührt. Und sei das nicht die größte Freude, dass er nicht zu Boden fallen muss? Doch warum soll er nicht zwischendurch auch fallen, wandte ich ein. Wir waren uns einig, dass die Bälle eben jene Fragmente seien, aus denen das Leben des Einzelnen und unsere Erinnerung an das Gewesene bestehen. Fragmente des Wissens, der Wahrnehmung, des Getanen und Ungetanen. Dabei dachte ich weniger an einen Ball als an die Porzellanfiguren vergangener Zeiten, denen ein Arm, ein Bein oder der Kopf fehlte, es waren Torsi, aber sie hatten eine Aufgabe. Sie wurden als Füllmittel eingesetzt, um in Paketen die Lücken zu stopfen. Endliche Figuren, vom Vergänglichen gezeichnet, und doch – ohne sie wäre die Statik gestört gewesen. Diese Brösel, Fragmente und Torsi haben das Ganze gehalten. Ironie des Fragments: unvollendet, zerfallend wirkt es dem Zerfall entgegen… Ball Paradox. In der Endlichkeit des Abschlusses gedeiht die Aura des Unvollkommenen und Unabgeschlossenen.
Guardinis Satz ist vor diesem Hintergrund nun nicht mehr allein logisch und sachlich, gleichmütig und kühl an der Seele vorbeiziehend, sondern er bekommt jetzt etwas Erhabenes, beinah Feierliches, ja festtäglich Freudiges: Feier des Fragmentarischen! Feier des Unabgeschlossenen im Endlichen! Feier der Fülle, bekundet im Unausschöpflichen. Befreiung vom Zwang zur Perfektion! Die Endlichkeit als Tor zum Offenen und nicht nur als Wand des Unausweichlichen! Wie könnten wir die Verheißung des Offenen je wahrnehmen ohne die Grenze? Diese paradoxalen Bewegungen zwischen dem Endlichen und dem Offenen spüre ich unmittelbar, während ich diese Sätze schreibe, auch als Endlichkeit der Schrift. Was in Buchstaben gesetzt ist, somit als abgefasster Text vorliegt, birgt die Gefahr, als abgeschlossen zu gelten. Der Text will eben nicht als Fragment gelesen werden und der Leser keine Torsi vorgelegt bekommen. Will er nicht? Was weiß ich über die Leser und über die verborgenen Schichten des Textes? Ich weiß nur vom Zuspätkommen. Das Wort und der Satz, die sich hier in diesem Moment vor meinen Augen ausrollen, erscheinen mit zeitlichem Verzug, denn erst habe ich sie – wenn auch nur für mich – gesprochen, bevor ich sie auf die Fläche, Schirm oder Papier, gesetzt habe. Auch dies der Endlichkeit des Augenblicks geschuldet. In der Zwischenzeit ereignet sich manches, das Wort ist blasser geworden als gewünscht, da vielleicht die Inspiration, die es mir zugeweht hatte, schon verhaucht ist. Oder andere Gedanken, Gefühle und damit verbundene Wortwelten sind inzwischen aufgetaucht, die ich jedoch beiseite geschoben habe, um mich nicht irritieren zu lassen und auf dem Weg zu bleiben. Oder ich zweifle gar an dem soeben Geschriebenen, lasse es jedoch stehen, um nicht die Konstruktion des Ganzen zu gefährden. Ich versäume somit Wege ins Offene. Ich lasse also etwas unerschlossen - und lese noch einmal Buber: Das Zwischenmenschliche erschließt das sonst Unerschlossene mit Betonung auf sonst. So gesehen erlebe ich an der Grenze der Schrift den Reiz des Endlichen, das ein Begehren nach dem Offenen weckt, jenseits des abgeschlossenen Textes. Was ist es anderes als das Zwischenmenschliche, das lebendige Innesein, der Atemraum? Was sonst kann das Unerschlossene erschließen, wenn nicht dieses? Das Geschriebene bleibt Fragment, das im Miteinander Gesprochene auch, aber dort weiß man um seine Vorläufigkeit und Brüchigkeit, schon aufgrund der zeitlichen Grenze, die jedem Gespräch innewohnt, die jedoch im besten Fall nur als Unterbrechung wahrgenommen wird. Im besten Fall? Das ist der Fall, in dem das Gespräch in den Teilnehmern lange nachwirkt, bis seine Endlichkeit spürbar wird in der Abwesenheit des je Anderen und der Wunsch sich regt, aufs Neue gemeinsam ins Offene hinaus zu tasten, fragil von Fragment zu Fragment. So werden beide das Unabschließbare spüren, schmerzhaft und zugleich lustvoll, als das Unausschöpfliche. Eine unabgeschlossene Kette abgeschlossener Augenblicke, jeweils Übergangsmomente – sogenannte Momentaufnahmen – auf dem Weg ins Offene. Im Durchschreiten dieser Kette wächst das Gespür für die Fülle des Offenen, die ich genauso als Leere erleben kann. An die Grenzen des Gesprächs gelangend, seien es die zeitlichen oder die des momentanen Misslingens oder Stockens, suche ich erneut, mit Hingabe und innerem Atem, das Offene in der Schrift – jenseits der Grenze, wo Menschen einander Raumschenker sind.
Der Blick ins Offene
Raum des Offenen, in den die Augen der Kreatur blicken: Rilke sah diesen Blick vor allem beim Tier, denn in ihm sei „Alles Vollzug des Lebens“, es werde Teil des dahinziehenden Lebens werde, aufgehoben in ihm:
„Und so geht sein Lebensakt hinaus ins Offene“.
Deswegen habe das Tier auch „seinen Untergang immer hinter sich“, es sähe nicht - wie der Mensch - den Tod vor sich. Wie aber könne dieser seine Angst und Not überwinden, die ihn angesichts des Bewusstseins seines einstigen Todes peinige? Den Blick ins Offene hat Rilke auch beim Kind wahrgenommen, bei den Liebenden und den Sterbenden. Wer nah dem Tode sei, hafte mit seinen Augen nicht mehr an Gegenständen, er folge dem Atem, Zug um Zug, Moment für Moment Übergänge vollziehend, auch den Übergang zwischen Leben und Tod. Die letzte Gewissheit, wenn alles Andere ungewiss ist. Der Sterbende, so Guardinis Kommentar dazu, „starrt hinaus ins Offene, denn nichts mehr ist zu beobachten und zu wollen“.
Ganz anders der sich seines kommenden Todes zwar Bewusste, der aber noch ganz das Leben vollzieht und nicht das Ende oder den Übergang. Doch auch hier gilt es, Zug um Zug mit dem zu gehen, was sich noch in jedem Moment, öffnet. Im Bewusstsein der Endlichkeit den endlichen Augenblick zu zelebrieren. Ein berühmter Schriftsteller gab kurz vor seinem Tod ein letztes Interview und war in der Vorbereitung penibel darauf bedacht, seinen Schnurrbart mit der Schere in eine präsentable Form zu bringen. Dies sei ihm wichtig, bemerkte er, denn es sei doch seine „Endvorstellung“. Im Bewusstsein des Unausschöpflichen hier und da am Bart und am Augenblick immer wieder zu zupfen: welch großartige Geste des Vertrauens in die Fortführung der Kette unabgeschlossener Gesten und Momente! In der Hingabe an das Bartstutzen weht die Ironie des Vergeblichen mit – möglich nur, weil der Bartträger gegenüber dem Tod gelassen ist. Das Sein wird gelassen, auch dasjenige des Todes – in doppelter Bedeutung. Das Sein so lassen, wie es ist, und das konkret Seiende hinter sich lassen. In beiden Fällen kann ich mich von vielfältigen Zwängen und Lasten befreien. Haben wir es erst gelassen, werden wir gelassen. Gelassenheit sei die Einsicht in die Vergänglichkeit, so sagt es ein philosophischer Aphorismus. Werden solche Sätze als Ratgeber gelesen oder gar als einzuübender Lehrsatz einer wie auch immer gearteten Haltung, erregen sie meist mein Unbehagen oder gar Widerstand. Anders als Bekräftigung eines eigenen Erlebnisses: das erwähnte Gespräch über die Endlichkeit hat mich eine neue Form der Gelassenheit gegenüber dem Leben und dem Tod erfahren lassen. Angesichts all des Unabgeschlossenen und Vorübergehenden, des schier Unabschließbaren und immer weiter Ausschöpfbaren im Unerschöpflichen. Gelassenheit lässt sich nicht einfordern, das sagt schon das Wort selbst.
Im Umgang mit dem Virus hätte ich mir dennoch mehr davon gewünscht. Was wäre wichtiger in Zeiten von Verlust, Trauer, Ohnmacht, Einsamkeit, Angst und Wut, als all diesem größtmöglichen Raum im Miteinander zu schenken? Die Themen Grenze und Offenes, Ungewissheit und Endlichkeit, Vergänglichkeit und Unverfügbarkeit sind so spürbar wie selten geworden, doch sprechen wir auch darüber? Was wird stattdessen verhandelt? Szenarien, mathematische Modelle, Prognosen und Gegenprognosen sowie administrative Erlasse und Kontrollmechanismen. In dem, was nicht zur Sprache kam und kommt, spüre ich die spirituelle Krise.
Die anfangs beschriebene Trauer hatte meinen Blick verstellt, der nur bis zu einer imaginierten Wand aus Endlichkeit und Vergänglichkeit reichte. Im Endlichen auch das Fragmentarische wahrzunehmen, ließ Wände und Mauern bröckeln, und zwischen den Fragmenten, den Mauerresten, erhasche ich nun öfter einen Blick ins Offene. Die Trauer ist damit nicht gewichen, nur weicher geworden, durchsichtiger und heller, wie ein nebliger Schleier hinten an den Rändern des Daseins. Der Raum ist geweitet. Auch das Vergangene findet seinen Platz, wenn ich in ihm nicht einen schwarzen Monolithen sehe, sondern lediglich Bruchstücke. So wie die kleinen Porzellan-Torsi können sie vielleicht das Heute und das Morgen abstützen und auffüllen. Es hängt von mir ab, ob ich mich auf die mühevolle Suche nach den fehlenden, abgebrochenen oder unabgeschlossenen Figuren, begebe, die ich hier und da in die Statik des Gegenwärtigen und Zukünftigen einbaue. Unerschöpfliche Arbeit – an ihr kann ich die fröhliche Narretei der feinen Ziselierarbeit des nie Auszuschöpfenden lernen. Das Feilen und Schürfen am geschriebenen, das Polieren und Zurechtbiegen am gesprochenen Wort, nicht um ein glattes Ergebnis zu feiern, sondern das Feilen und Schürfen selbst – wie das Bartstutzen. Immer öfter ein Blick ins Offene. Was sehe ich dort? Manchmal nichts, aber wenigstens keine Wand. Zu sehen ist ohnehin nicht viel, dafür mehr zu spüren - so etwas wie gute Kräfte, die einem beistehen, und diese Kräfte haben manchmal eine Stimme und begleiten mich, im Innern, den Einklang mit dem Außen herstellend.
Die Dauer
Die Feier des Endlichen findet jedoch irgendwann ihr eigenes Ende, auf die Feierlaune folgt der Kater: So schön wie es war, wird es nie mehr sein. Wer möchte das Schöne nicht festhalten, es dauerhaft bei sich tragen? Doch es gibt keine Wiederholung – dies war zum Credo meines Vaters geworden, um sich vor Enttäuschungen zu schützen. Es gelang ihm dennoch nicht immer. Wenn aber alles nur einmal sich ereignet, was verbürgt dann die Dauer der Dinge, der Welt und des Lebens? Müssen wir dann nicht ständig neu anfangen? Sogar ohne die Möglichkeit der Anknüpfung an etwas? Endlichkeit und Vergänglichkeit scheinen keine Dauer zu erlauben. Und doch ist die Dauer genauso durch das Vergängliche bedingt wie das Offene. Es gibt keine Wiederholung - in Rilkes Worten aus der neunten Elegie heißt das:
„Einmal jedes, nur einmal. Einmal und nicht mehr. Und wir auch einmal. Nie wieder. Aber dieses einmal gewesen zu sein, wenn auch nur einmal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.“
Hier scheint sie durch, die Dauer, im nicht Widerrufbaren. Und doch nur einmal, also unwiederbringlich, wenn auch unwiderrufbar. Vielleicht kommt hier die lebendige Sinnspannung zwischen Leben und Tod zum Ausdruck, von der Rilke so beseelt ist. Überdauert denn das Einmalige nicht seine eigene Vergänglichkeit, weil es das Besondere, ja Einzigartige ist? Darauf richtet sich die Hoffnung, wenn die Angst einen bedrängt, dass jedwedes „Einmal nur“ verglüht, bevor es wirksam wird in der Welt. Lebendige Sinnspannung zwischen der Dauer, wie aus Trotz dem Außergewöhnlichen zugesprochen, und der Trauer über das stets neue Vergehen. Doch Sinnspannung bedeutet nichts anderes als lebendige Wechselwirkung - das Eine kann nicht sein ohne das Andere. Das mag in der „Theorie“ so sein, philosophisch sauber gedacht – aber der Mensch möchte das Gedachte auch fühlen, als Wirklichkeit seines Lebens. Das Aufblitzen des Einmaligen, selbst wenn es in noch so betörenden Farben daher käme, wird die Sehnsucht nach Dauer nicht stillen, wenn Dauer Stabilität bedeutet sowie Sicherheit und Verlässlichkeit. Die suchen manche – und finden sie dann auch meist - in Begriffen wie Tradition und Heimat oder in der Anbetung eines Gottes. Da sind die Liturgien und die Feste im Zyklus der religiösen Überlieferungen, da sind die Jahreszeiten, die Bräuche und Sitten von „Alters her“, da ist der Boden, den schon der Urgroßvater umgepflügt hat. Überlieferung und Weitergabe an die Kommenden ist das Eine, doch zugleich ist all dies aufgeladen mit der Sorge um den Fortbestand, geboren häufig aus der Angst vor der Vergänglichkeit des Seins. Und wie alles, das angstgeboren ist, schleichen sich hier Eifer und Verbohrtheit ein, um das Althergebrachte gegen Veränderungen zu verteidigen, denn damit würde wieder dem Vergänglichen Platz eingeräumt. Auch die Angst vor dem Aufweichen der Riten und Dogmen zeigt sich hier – weswegen die Religionskriege so erbittert geführt werden. Die Sehnsucht nach der Dauer kann dergestalt in Fanatismus und kollektive Wahnideen umschlagen. Dazu gehört eine romantische Verklärung der Vergangenheit, projiziert in die Zukunft.
Um die Suche nach der Dauer vor ideologischem Eifer und Kollektivwahn zu bewahren, müsste die Erfahrung der Dauer individuellerer Natur sein. Diesen Weg hat vor einigen Jahrzehnten Peter Handke in seinem „Gedicht an die Dauer“ gezeigt. Ein schmales Büchlein mit einem langen Gedicht, das diejenigen enttäuschen wird, die eine Definition der Dauer erwarten. Doch Gedichte sind für solcherart Erwartungen nicht geschrieben. In diesem hier durchstreift der Autor Landschaften, Plätze, Erinnerungen, Wetterphänomene, das eigene Selbst sowie alltägliche Verrichtungen und anderes Nebensächliche auf der Suche nach der Dauer. Findet er sie? Und wenn, was findet er?
„Die Dauer ist kein Gemeinschaftserlebnis, und doch bin ich im Zustand der Gnade der Dauer endlich nicht bloß ich allein“,
heißt es an einer zentralen Stelle des Gedichts. Das Erste, was an diesem Satz frappiert, ist die Gnade. Sie kann nicht herbeigeholt werden, immer ist sie Geschenk. Der gläubige Mensch mag um sie beten. Die Dauer bekommt hier fast eine sakrale Dimension. Doch im Unterschied zum gemeinsamen Gebet oder zum konfessionellen Gemeindeleben entsteht hier kein Gemeinschaftserlebnis, denn die Orte, Begebenheiten oder Befindlichkeiten, die Handke danach untersucht, ob sich in ihnen die Dauer finden lasse, sind solche des ganz persönlichen Erlebens. Ein bestimmter Ort, der für den einen geradezu die Inkarnation der Dauer ist, eine Erinnerung, welche das Phänomen der Dauer für ihn wachruft, ist für den anderen nichtssagend oder gar nicht existent. Die Erfahrung der Dauer scheint also eine höchst subjektive zu sein. Und gleichzeitig führt sie den Dichter heraus aus dem Alleinsein, sie schafft auf bestimmte Weise Verbundenheit. Tatsächlich geht es an einer anderen markanten Stelle des Gedichts um das „Bewusstsein einer Verbundenheit“, und zwar dort, wo der Autor warnt, dass auf die Dauer kein Verlass sei, sie vielmehr nur möglich werde, wenn er bei seiner Sache bleibe. Was aber ist seine Sache? Die Sache sein nicht groß, erfährt der Leser, und weiter:
„….keine Mondlandung, kein Jahrhundertwerk, keine Gipfelbesteigung oder Kamikazeflug. Ich teile sie mit den Millionen, mit dem Nachbarn ebenso wie mit den Bewohnern des Randes der Welt, wo durch die gemeinsame sache die gleiche Mitte der Welt entsteht wie hier bei mir.
Ja, diese Sache, der mit den Jahren die Dauer entspringt, sie ist wesentlich unscheinbar, der Rede nicht wert, wohl aber des Festhaltens durchs Schrieben: denn sie muss meine Hauptsache sein.
Sie muss meine wahre Liebe sein. Und ich muss, damit mir die Dauermomente entspringen und meinem starren Gesicht eine Prägung geben und meiner leeren Brust ein Herz einsetzen, meine Liebe, unbedingt, üben, jahraus und jahrein.
Bei der Sache bleibend, die mir lieb und mir die Hauptsache ist, solcherart ihr Verjähren verhindernd, fühle ich dann vielleicht, und ausschließlich unvermutet, den Schauder der Dauer, und jedesmal am Nebensächlichen, beim behutsamen Schließen einer Tür, beim sorgfältigen Schälen eines Apfels, beim aufmerksamen Überscheiten einer Schwelle, beim Sichbücken nach einem Nähfaden.“
Eine wunderbare Verknüpfung des ganz und gar Nebensächlichen mit dem, was wir Welt nennen. Und so ist es ja auch: wenn die Menschen etwas vereint, dann doch all dies Nebensächliche und Alltägliche, was sich stets auf die eine oder andere Weise wie beiläufig ereignet. Doch wie kommt die Dauer hier ins Spiel? Ist es das, was Rilke nicht widerrufbar nennt, das mithin auf irgendeine Weise fortwirkt? Ist es die Würdigung dieser unwiderruflichen alltäglichen Nebensächlichkeiten durch das Aufmerken und Gewahrwerden? Die Nebensächlichkeiten sind damit nicht weniger vergänglich, und doch für einen Moment der Vergänglichkeit entrissen, und dies umso mehr durch den Schriftsteller, der sie aufhebt. Vom Boden aufgelesen, bewahrt, in ein neues Licht gehoben und für den lesenden Menschen aufgehoben – somit in die Dauer gehoben. Und zugleich geht es nicht um die Gegenstände, sondern um die Beziehung zu ihnen. Darin liegt offenbar das Geheimnis der Dauer, dass der einzelne Mensch „seine“ Gegenstände hat, die ihm etwas sagen, aus welchen Gründen auch immer. Im Sagen begleiten sie ihn, wie eine kleine Welt der flüsternden Stimmen, selbst vergänglich und durch ihre Stimme zugleich der Vergänglichkeit widerstehend. So sind es bei Handke mal eine Teekanne, in die der Schnee weht, ein alter Flechtstuhl oder ein Löffel, der manchen Umzug überstanden hat. Ein guter Freund, dem ich Teile des „Gedichts an die Dauer“ vortrug, fühlte sich spontan erinnert an John Lennons Lied „Across the Universe“, in dem der Refrain lautet „Nothing’s gonna change my world“. Ich war von dieser Assoziation überrascht. Zwar hatte ich den Refrain stets als typische Ironie Lennons im Ohr, doch jetzt nahm ich die Zeile neu und anders auf, und es wurde mir bewusst, dass die Betonung auf „my“ läge. Zwar ändert sich „meine“ Welt ebenso beständig wie „die“ Welt – und doch sind die Gegenstände und Stimmen, die immer wieder oder auch fortwährend - dauerhaft – mich begleiten, nur für mich bestimmt, und nur mir sagen sie etwas. Sie sind einmalig, vergänglich, unwiderbringlich - und gerade deswegen so präsent in dem, was ich tue. Und so heißt es denn auch bei Handke an einer weiteren Stelle:
„In der Stille an diesen Seen weiß ich, was ich tue, und indem ich weiß, was ich tue, erfahre ich, wer ich bin.“
Es ist diese Spannung zwischen dem Unwiederbringlichen und dem Unwiderrufbaren, welches eines der Geheimnisse unserer Existenz ist, das es nicht gäbe ohne die Vergänglichkeit und ohne den Schmerz des Abschieds:
„Dauer ist nicht im unvergänglichen vorzeitlichen Stein, sondern im Zeitlichen, Weichen.“
Und nur, so könnte man hinzufügen, im Angesicht des Zeitlichen, wird jener andere Satz erst sagbar: „Von der Dauer gestützt, trage ich Eintagswesen meine Vorgänger und Nachfolger auf den Schultern…“
Etwas bleibt, unwiderrufbar, sich einnistend zwischen den Geschlechterfolgen. Es bleibt im Vergehen, indem es bewahrt und weitergegeben wird: ein Wort, ein Bild, eine Geste, ein Hauch, in jedem Fall eine weiche Übergabe, nicht hart wie der Staffelstab. Unwiderrufbar und unwiderbringlich: Die Frage, wie gerade das nur augenblickshaft Erlebte und Geschehene zum Anker der Dauer werden könne, wird eine immer nur vorläufige Antwort finden, und auch nur in den Worten der Poesie und der Spiritualität, vorläufig dabei ganz wörtlich verstanden als vorlaufend auf etwas, das erst noch kommen wird.
Franz Rosenzweig hat diesem Phänomen in seinem „Stern der Erlösung“ nachgespürt. Die Brennpunkte des Lebens, so schreibt er, an denen sich eben die Einmaligkeit des Unwiderrufbaren ereignet, machten zwar das Leben aus, aber sie allein verbürgten nicht die Dauerhaftigkeit der Welt, schon gar nicht eine unendliche Dauer, die dem stets augenblicklichen Dasein zugrunde liegen könne. Aber: Diese unendliche Dauer finde sich (nur jetzt) noch nicht. Das Gesuchte (die unendliche Dauer) zeige sich dennoch im Endlichen, allerdings nur als das Nochnichtunendliche – ein wunderbares Wort aus doppelter Verneinung und Verzögerung, in der das Unendliche im Endlichen vorweggenommen zu sein scheint.
Bin ich ein wenig vom Wege abgekommen? Doch was und wo ist der Weg? Das Ungewisse, die Fragmente, das Endliche und Fragliche – sie bleiben mir erhalten, dauerhaft. Ohne sie gäbe es weder die Dauer noch das Offene. Die Dauer gräbt dem Leben das Flussbett, dem ich mich anvertrauen kann, um Gelassenheit zu üben. Der Weg ist nicht ein gerader, eher ein Hin- und Herlaufen zwischen den Brennpunkten der Trauer und der Feier, der Angst vor dem Vergänglichen und der Lust daran, im Spüren des Noch-nicht – das Unendliche belasse ich für den Moment im Hintergrund. Wenn eines diese Zeit, in der Krankheit und Tod zu den beherrschenden Themen geworden sind, gezeigt hat, dann den Mangel daran, einen anderen Umgang mit den Fragen nach Vergänglichkeit, Endlichkeit und dem Leben zu finden. Doch vielleicht ist es noch zu früh, vielleicht wird ein nachgerade spirituelles Bedürfnis nach solcherart Fragen wachsen. Dies bleibt ungewiss…. offen also.
Alles andere: ungewiss
Zur Spirituellen Krise - zweiter Teil
von Frank Hahn (Vorsitzender von Spree-Athen e.V.)